#Euro 2016 Julia Probst liest den Stars von den Lippen: "Wutbärchen Jogi und seine Gentlemen . . . "

Die Stars haben reagiert: Wenn es auf dem Platz etwas Wichtiges oder Brisantes zu besprechen gibt, halten sich Spieler und Trainer die Hand vor den Mund. Das liegt auch an einer jungen gehörlosen Frau aus Hamburg, die Stars belauscht.

Die gehörlose Julia Probst liest den (Fußball-)Stars von den Lippen.

Foto: Daniel Reinhardt

Hamburg. Julia Probst hat viele Fähigkeiten — eine davon ist das Lippenlesen. An den Bewegungen von Mund und Lippen kann sie mit verblüffender Trefferquote erkennen, was gesagt worden ist. Eine Eigenschaft, auf die gehörlose und schwerhörige Menschen im Alltag angewiesen sind, die aber längst nicht alle Betroffenen auf diesem Niveau beherrschen — Julia Probst nutzt ihre Ausnahmebegabung als Mittel zum Zweck.

Sie betreiben Ihren Blog und den Ableseservice auf Twitter schon seit einiger Zeit. Die mediale Resonanz ist sehr groß. Wie gefällt Ihnen das?

Mittlerweile habe ich mich daran gewöhnt, denn der Ableseservice hat mir auch den Weg geöffnet, das Anliegen von uns gehörlosen und schwerhörigen Menschen nach kompletter Barrierefreiheit zu verbreiten und auch in die Köpfe der Politiker zu tragen. Gerade wir Gehörlosen stehen oft auf dem Abstellgleis, wenn es um den Zugang zu Informationen und zu Veranstaltungen geht. Es fühlt sich also gut an, weil für mich die positiven Aspekte überwiegen. Wenig sportlich finde ich das Verhalten der Bundesregierung und von Arbeits- und Sozialministerin Andrea Nahles, mit dem Bundesteilhabegesetz eine Mogelpackung ohne echte Beteiligung und Anhörung von uns Menschen mit Behinderung per Kabinettsbeschluss zu verabschieden und fundierte Kritik von uns als unzulässig zu degradieren. Das Bundesteilhabegesetz ist ein Exklusionsgesetz statt ein Inklusionsgesetz.Sie engagieren sich für Inklusion und wollen laut Ihrem Blog „die Barrieren in den Köpfen der Menschen beseitigen, wenn es um Gehörlose und Schwerhörige und alle anderen Menschen mit Behinderung geht.“

Haben Sie das Gefühl, dass dies in den vergangenen Jahren einen positiven Trend erfahren hat?

Es hat sich einiges getan, vor allem die Situation im Fernsehen hat sich deutlich gebessert. In den letzten fünf Jahren wurden die Untertitel deutlich spürbar ausgebaut und auf politischen Veranstaltungen im großen Rahmen sind jetzt häufiger Gebärdensprachdolmetscher. Aber wir sind leider noch nicht bei 100% hochwertigen Untertitel im Fernsehen. Da sind uns andere Länder ganz klar voraus.

Bekannt geworden sind Sie durch Ihren Ableseservice bei Spielen der deutschen Nationalmannschaft. Wie sind Sie dazu gekommen?

Das fing bei der Heim-WM 2006 an — da habe ich beim Rudelfernsehen mit Freunden gemerkt, dass ich mehr verstehen kann als meine Freunde, und musste bei einer Szene mit Klinsi und Poldi lachen, worauf meine Freunde nachgehakt haben. Und nach meiner Erklärung, dass ich ablesen kann, was die Spieler und Trainer so sagen, musste ich das dann immer machen bei der WM 2006. Im Jahr 2009 habe ich dann Twitter für mich entdeckt und aus Jux mal damit angefangen, dass dort zu machen. Das kam dann so gut an, und so wurde der Ableseservice auf Twitter geboren.

Sie schrieben einmal, dass Jérôme Boateng nur schwer zu verstehen ist, weil er so nuschelt. Gibt es Spieler, die besonders verständlich sind, oder Spieler, die sehr schwer zu verstehen sind? Wie steht es mit anderen Sprachen oder Akzenten?

Solche Spieler gibt es, Boateng ist ein Beispiel dafür. Mit Müller habe ich als Bayerin nicht so meine Probleme oder mit dem Badischen von Jogi, damit komme ich gut klar. Ich spreche außer Deutsch, Deutscher Gebärdensprache noch Englisch. Ein paar Brocken Italienisch kann ich auch noch.

Sie nennen Joachim Löw liebevoll „Wutbärchen“ …

Er hat zum Beispiel im Spiel gegen Serbien bei der WM 2010 die Wasserflasche aufgebracht auf den Boden geworfen und geschimpft: „Für alles gibt es Gelb, Mensch!“ Boateng, unser aller Lieblingsnachbar, ist eine saucoole Socke, aber er kann auch mal austeilen. Unsere Jungs sind alle ziemlich gut erzogen und benehmen sich auf dem Platz wie elf Gentlemen.

Was waren Ihre größten Entdeckungen? Welche Zitate oder Tweets sind besonders gut angekommen?

Müller hat sich bei der Auswechslung durch Pep Guardiola beim Spiel gegen den FC Barcelona im Mai 2015 aufgeregt: „Kann diese Scheiße aufhören?“ Jogi rief im WM-Spiel gegen die USA: „Das ist so kacke“, „Was ist das denn?“ beim Spiel gegen Algerien und „Ich verstehe nicht, warum es nicht besser wird.“ Aber am liebsten ist mir das Anfeuern von Schweinsteiger bei der WM 2010 in Erinnerung geblieben, als er vor dem Anpfiff im Kreis stand, die Spieler um ihn herum, und er dann sagte: „Von nichts kommt nichts.“ Da habe ich dann gesehen, wie wichtig „Schweini“ für die Mannschaft ist. Der Silberfuchs ist der emotionale Leader der Mannschaft.Sie sind generell sehr sportinteressiert sind. So haben Sie beispielsweise während der Leichtathletik-DM Tweets mit sportlichem Inhalt gepostet. Was sind Ihre Lieblingssportarten und was fasziniert Sie daran?Neben Fußball bin ich noch ein extremer Biathlon-Junkie - ich bin im Winter gut dabei, das anzuschauen und mitzufiebern. Daneben mag ich noch gerne Leichtathletik, vor allem den Zehnkampf.Haben Sie einen Lieblingssportler oder einem Lieblingsverein?Ich bin ein erklärter Fan vom Borussia Dortmund und vom FC Augsburg. Und mein Lieblingssportler ist Zinedane Zidane, denn es wird nie wieder so einen geben wie ihn. Niemand streichelte den Ball so gekonnt mit den Füßen wie er und er konnte mit genialen Aktionen ein ganzes Spiel innerhalb von Sekunden drehen. Ich habe höllisch mit ihm gelitten 2006, denn ich bin zur Hälfte Algerierin.

Sie verteidigen auf Ihrem Twitter-Account Cristiano Ronaldo. Können Sie sich erklären, wieso er oft negativ dargestellt wird?

Ich denke, es ist einfach so, dass Cristiano Ronaldo eine ideale Hassfigur abgibt, denn er ist natürlich sehr eitel in Bezug auf sein Aussehen und hat dazu auch noch Erfolg. Es ist so einfach, einen Menschen zu hassen, und es ist so schwierig, einen Menschen einfach für das zu schätzen, was er tut. Warum eigentlich? Hass hat doch noch nie was Gutes hervorgebracht. Ich schätze Ronaldo sehr für sein Engagement neben dem Platz. Nehmen wir mal Messi — warum wird Messi bejubelt und angebetet, obwohl er doch Steuern hinterzogen hat und alles? Was hat Ronaldo sich zuschulden kommen lassen? Bisher nichts dieser Art.