Jung, entspannt - erfolgreich? Englands neue Philosophie
Chantilly (dpa) - Selbst der englische Anführer verträgt ein wenig Spott. Als Wayne Rooney beim öffentlichen Training den Ball deutlich über das Mini-Tor jagt, jaulen die Fans am Spielfeldrand auf und seine Teamkollegen kichern hinter dem Rücken des Kapitäns wie kleine Schuljungs.
Die Szene auf dem Trainingsplatz im nordfranzösischen Chantilly steht vier Tage vor dem EM-Auftakt sinnbildlich für die neue Gelassenheit bei den Three Lions: Die Zeit der Platzhirsche um Frank Lampard oder Steven Gerrard ist lange vorbei - England stellt sogar das jüngste Team bei der Euro.
„Das Gefühl ist großartig, es geht entspannter zu als die vergangenen Jahre“, berichtete Liverpools Daniel Sturridge, der mit 26 Jahren schon über dem Altersschnitt liegt, nach der Einheit. „Die Gruppe ist jünger als zuletzt. Es gibt keine Animositäten. Es ist die beste Stimmung, die ich jemals beim Nationalteam erlebt habe.“ Dies zeigt sich auch in einer besonderen Team-Aktion: Jeden Tag muss ein anderer Spieler einen kleinen Plüsch-Löwen umhertragen.
Nur Rooney ist geblieben aus der vermeintlichen Goldenen Generation um David Beckham, John Terry, Gerrard & Co., die jedes Mal bei großen Turnieren kläglich scheiterte. Es habe damals immer viele „Cliquen“ gegeben, berichtete der frühere Nationalspieler Rio Ferdinand nach Ankunft des aktuellen Teams in Frankreich. „Unsere Generation von Topspielern waren Individuen, aber wurden niemals ein Kollektiv.“
Und so sieht der 30-jährige Rooney sich als ältester Akteur des Aufgebots nicht nur wegen seines Spielführeramts in einer ganz neuen Aufgabe. „Ich war bei Turnieren, die ich nicht so genossen habe, wie ich es hätte tun sollen“, erinnert der einzige englische Superstar. „Also wäre das meine Botschaft an die Jungs: Genießt es!“
Genießen kann das Team bislang seinen Aufenthalt in Frankreich. Statt wie beim kolossalen WM-Fehlschlag in Brasilien vor zwei Jahren direkt an der belebten Copacabana zu übernachten, hat sich die Mannschaft von Roy Hodgson in die kleine Gemeinde Chantilly gut 30 Kilometer nördlich von Paris zurückgezogen. Beim öffentlichen Training jubeln rund 600 Fans, ein Kinderchor singt die englische Nationalhymne.
Auch abseits des Platzes nimmt Rooney seine Rolle vor allem für die elf Turnierneulinge ernst. „Es ist offenkundig langweilig! Du trainierst, gehst zurück ins Hotel und bist dann den ganzen Tag im Hotel“, berichtete der Angreifer von Manchester United über seine Erfahrungen. „Viele Spieler waren wahrscheinlich niemals mit einem Team länger als zwei Wochen von zuhause weg. Ich versuche, alle aktiv zu halten.“
So hat der englische Verband Billardtische und Dartscheiben aufgestellt, einem Bericht des „Mirror“ zufolge haben alle Spieler zudem einen eigenen Account für ein Musikstreamingportal sowie eine Spielekonsole erhalten.
Nur in einem Punkt hat es der englische Verband mit seinem Perfektionismus aus Sicht der Gastgeber übertrieben - die FA brachte ihr eigenes Rasensaatgut mit in das Teamquartier. „In Frankreich wissen wir, wie man einen guten Platz herrichtet“, sagte Frederic Servelle von der Stadt Chantilly der „L'Équipe“ über die „fordernden“ Gäste. „Und wenn man ihnen zuhört, bekommt man manchmal den Eindruck, dass das nur die Engländer können.“