Achtelfinale Kevin De Bruyne - Mister Überall

Dem schwer zu fassenden Kevin De Bruyne bietet sich mit dem belgischen Nationalteam bei dieser EM nun eine historische Chance - dafür darf sich der teure Tempofußballer auch noch steigern

Belgiens Kevin De Bruyne.

Foto: Federico Gambarini

Toulouse. Einmal angenommen, Kevin De Bruyne wäre kein prominenter Fußball-Nationalspieler, sondern ein ganz gewöhnlicher Fußball-Anhänger. Würde sich der Belgier dann zum Fußballgucken im schönen Toulouse in den Melting Pot Pub am Boulevard de Strasbourg begeben, wo eine beinahe englische Begeisterung herrscht? Oder würde er ins Café de Toulouse an der Grande Rue Saint-Nicolas gehen, wo eine südfranzösische Lässigkeit angesagt ist? Vermutlich in keine der beiden Locations. Hätte der 24-Jährige, der am kommenden Dienstag seinen 25. Geburtstag feiert, einen Tag frei, würde es ihn vermutlich mit Freundin Michele dorthin ziehen, wohin auch die jungen Einheimischen an lauen Sommerabenden streben: auf den Place St. Georges, an denen das „Savoir-vivre“ in Reinkultur gelebt wird. Und wo die meisten Restaurants und Cafés von Flachbildfernsehern mit Fußballübertragungen befreit sind.

Wie sehr dem feinfühligen Filigrantechniker mal nach einer Rückzugsmöglichkeit lechzt, war kürzlich beim gemeinsamen Grillabend mit den Spielfrauen im Teamquartier in Bordeaux zu bemerken, als der belgische Star nach Augenzeugenberichten förmlich aufblühte. „Es war wirklich schön“, berichtete er tags darauf vor der belgischen Presse bestens gelaunt, „schließlich sind wir alle schon lange ohne unseren Familien unterwegs.“ Und Verzicht üben fällt schwer, wenn einer frischgebackener Vater geworden ist: Durch die Geburt seines Sohnes Mason Milian haben sich die Prioritäten ein wenig verschoben. Oder sogar ein bisschen mehr.

Zumindest hat Nationaltrainer Marc Wilmots diese Erklärung angeführt, als er zuletzt über die Leistungsschwankungen dieses Spielers sprach. De Bruyne, zusammen mit Eden Hazard das größte Versprechen der „Red Devils“, der Roten Teufel, hat vor dem Achtelfinale in Toulouse gegen Ungarn (Sonntag 21 Uhr) ein Turnier mit allen Facetten gespielt. Abgetaucht gegen Italien (0:2), aufgeblüht gegen Irland (3:0) und — ja was eigentlich? — gegen Schweden (1:0). Der Rotschopf mit dem angestrengten Blick war enorm viel unterwegs, er schoss vehement aufs Tor, er gab erstaunliche Zuspiele auf seinen Mittelstürmer Romelu Lukaku — und doch war keine Aktion am Ende von Erfolg getönt. Nach der Vorrunde sind gelistet: null Tore, eine Vorlage. Für einen, der in Frankreich seit seinem Wechsel vom VfL Wolfsburg zu Manchester City ein 75-Millionen-Preisschild mit sich herumträgt, sei das zu wenig, sagen Kritiker.

„Damit kann ich leben“, entgegnete De Bruyne gelassen, „ich habe nicht an mir gezweifelt. Ich weiß, was ich kann.“ Hat er nicht gegen die Skandinavier kurz vor Schluss auf der eigenen Torlinie gerettet? Und ist doch nicht schlecht, wenn noch Luft nach oben ist; jetzt, wo sich den Repräsentanten der Flamen und Wallonen eine fast schon historische Chance bietet. Das Tableau ist wie gemacht, um weit zu kommen. Ein Erfolg gegen die Magyaren würde ein Viertelfinale gegen Wales oder Nordirland einbringen und dann wäre Belgien bereits im Halbfinale — morgen ist diese Mannschaft ein Titelkandidat, gestern war sie Prügelknabe. „Wir sind nicht tot, wir sind in der Spur“, merkt Wilmots genüsslich an. Der Kopf ist wieder oben.

Der Nationaltrainer hat Vertrauen in Ausnahmekönner wie De Bruyne, die alles vereinen, was einen Weltklassespieler ausmacht: ungeheure Dynamik, schneller Antritt, präziser Schuss, prächtiges Auge. Und doch wird der Betrachter beim Prinz-Harry-Verschnitt oft den Eindruck nicht los: Da ginge manchmal noch mehr. Wenn er vorwurfsvoll die Hände hebt, wenn er den Kopf schüttelt — dann wirkt es so, als fahre der Fußball mit ihm gefühlsmäßig Achterbahn.

Wilmots hat früh entschieden, im Trainingscamp von Girondins Bordeaux, wo gleich daneben auch die Pressekonferenzen stattfinden, nur die starken Seiten an seiner Nummer sieben herauszustellen. „Kevin hat eine schwere Saison hinter sich“, spielte der 47-Jährige zuletzt noch einmal auf die fast zweimonatige Zwangspause im Frühjahr durch eine Knieverletzung an, die wohl auch dafür verantwortlich war, dass sein 44-facher Nationalspieler in den Champions-League-Halbfinals gegen Real Madrid verhältnismäßig blass blieb.

Grundsätzlich gilt, was Wilmots herausstellt: „Er ist jemand, der den Unterschied machen. Er ist in der Lage, seine Position während eines Spiels mehrfach zu wechseln.“ Was der in der Talentschmiede von KAA Gent geformte Tempofußballer auch tut. Seine wahre Position ist für Mitspieler und Gegner oft nicht zu fassen. Auch am Sonntagabend in Toulouse soll er überall auftauchen — aber bitte auf dem Spielfeld im Stade Municipal, nicht in den Szene-Sportbars.