EM-Zwischenbilanz: Diskussionen zum Start der K.o.-Phase
Paris (dpa) - Unerwartete Favoritenpatzer, märchenhafte Underdog-Erfolge - die kuriose Vorrunde sorgt bei der Mammut-EM für brisante sportliche Konstellationen. Vor dem Start in die K.o.-Runde am Samstag diskutiert die Fachwelt lebhaft über die ungleiche Verteilung im Turniertableau.
Auf der einen Seite stehen Fußball-Großmächte wie Deutschland, Italien, Spanien, Frankreich und England, die bei Welt- und Europameisterschaften insgesamt 33 Mal im Finale standen und 20 Titel gewannen. In der anderen Hälfte kämpfen ausnahmslos titellose Nationen um den Finaleinzug, der in der Historie großer Turniere nur drei Mannschaften gelang. Ungarn (WM 1938/1954), Belgien (EM 1980) und Portugal (EM 2004) verloren jeweils. „Wir müssen nun mit den Favoriten tanzen“, beklagte Spaniens Kapitän Sergio Ramos das kuriose Missverhältnis.
Besonders in Spanien und Italien ist der Unmut groß. Schließlich wird einer der beiden Mitfavoriten bereits im direkten Achtelfinalduell am Montag in Paris auf der Strecke bleiben. So monierte die „Gazzetta dello Sport“ die „schlechte Organisation dieses Turniers“. Überhaupt fühlen sich viele Kritiker der erstmals mit 24 Mannschaften ausgetragenen EM angesichts des „schiefen Turnierbaums“ („Süddeutsche Zeitung“) bestätigt. Dabei haben sich die Spanier und Engländer mit ihren zweiten Gruppenplätzen selbst in die schwierige Lage manövriert.
Darüber hinaus verstärkte der langwierige und komplizierte Qualifikationsmodus für das Achtelfinale vielerorts den Unmut. Immerhin 36 Spiele waren nötig, um nur acht ausscheidende Teams zu ermitteln. Für weiteren Ärger sorgte die Unsicherheit: So bangten die Albaner nach ihrem 1:0 im letzten Gruppenspiel gegen Rumänien drei Tage um das Weiterkommen, ehe ihr Knockout feststand. „Das kann nicht Sinn eines Turniers sein“, kritisierte Albaniens Mergim Mavraj in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. „Ich hätte eine Entscheidung auf dem Platz als Sportler besser gefunden“, sagte der Kölner Bundesligaprofi.
Auch die Türken erlebten das Aus vor dem TV. Deren Hoffnung, es als einer der vier besten Gruppendritten doch noch in die K.o.-Runde zu schaffen, wurde erst 24 Stunden nach dem 2:0 über die Tschechen zerstört. Der ehemalige Nationalspieler Ridvan Dilmen fand in der Zeitung „Sabah“ deutliche Worte: „Wir wurden Opfer der Regeln. Dieser Modus muss dringend geändert werden. Portugal kommt mit drei Unentschieden weiter, während wir und Albanien einen Sieg holen und trotzdem ausscheiden.“
Der Blick auf die nackten Zahlen liefert den Skeptikern eine weitere Argumentationshilfe. In den vergangenen fünf EM-Endrunden fielen immer mindestens zwei Tore pro Spiel. In Frankreich liegt dieser Schnitt bei 1,92. Einen schlechteren Wert gab es bisher nur bei der EM 1968 (1,4). Dass die Zahl der Chancen ebenfalls abnahm, bestätigt den Eindruck von einem bislang wenig spektakulären Turnier. „Der neue Modus hat nicht dazu geführt, dass es attraktiver geworden ist, eher das Gegenteil ist der Fall“, befand Schalkes ehemaliger Manager Horst Heldt im „Kicker“.
Dieser kritischen Einschätzung widersprach Giorgio Marchetti. Nach Einschätzung des Wettbewerbsdirektors der UEFA hat die Reform „die Qualität des Turniers nicht negativ beeinflusst. Was die Spannung des Wettbewerbes angeht, könnte es nicht besser sein.“
Vor allem die überraschend starken EM-Debütanten sorgten für frischen Wind: Gleich vier von fünf überstanden die Vorrunde. Der famose Auftritt ihrer Teams versetzte die Fans aus Wales, Island, Nordirland und der Slowakei in Hochstimmung. Das gute Abschneiden werteten die UEFA-Verantwortlichen auch als Zeichen für eine gelungene EM-Reform. „Ich war extrem positiv überrascht“, kommentierte Marchetti.
Für mindestens einen der Neulinge wird das Fußball-Märchen im Achtelfinale auf jeden Fall weitergehen. Schließlich treffen Nordirland und Wales am Samstag (18.00 Uhr) in Paris direkt aufeinander.
Bei aller Begeisterung für die Underdogs sehnen die meisten Fußballfans mehr aufregende und torreiche Spiele wie beim 3:3 der Portugiesen im Gruppenfinale gegen Ungarn herbei. Vielleicht trägt der neue Turnierball dazu bei, der mit dem Start der K.o.-Runde eingesetzt wird. Er trägt die vielversprechende Bezeichnung „Fracas“ - französisch für Krach. Das soll laut Ausrüster die „hohe Dramatik“ und das „gesteigerte Tempo“ widerspiegeln, „die mit Ausscheidungsspielen einhergehen“.