Kraftakt macht Löw „schlauer“ - Schweinsteiger-Comeback

Évian-les-Bains (dpa) - Ausschlafen, ausruhen, abschalten: Nach der Rückkehr nach Évian-les-Bains kurz vorm Morgengrauen gönnte Joachim Löw seinen abgekämpften Auftaktsiegern zunächst einmal Erholung und Pflege.

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Mit einem Sonnenbad wurde es am wolkenverhangenen Genfer See für das Team um den bestaunten Kurzarbeiter Bastian Schweinsteiger zwar nichts. Aber die Laune in der deutschen EM-Reisegruppe trüben konnte das miese Wetter zumindest am Tag der Regeneration nach dem zähen 2:0 in Lille gegen die robusten und konterstarken Ukrainer nicht. Der Fußball-Weltmeister ist erfolgreich in die lange Tour de France gestartet, die schweren Königsetappen kommen aber erst noch.

„Wir sind noch nicht da, wo wir hinmüssen, wenn wir das Turnier gewinnen wollen“, sagte Toni Kroos. Der Champions-League-Sieger hatte mit bemerkenswerter Präsenz und Ballsicherheit das Spiel gelenkt und wurde folgerichtig als „Man of the Match“ ausgezeichnet.

Auch Löw hatte am Sonntagabend registriert, dass noch viel Arbeit auf ihn und seine Brasilien-Champions wartet. Dennoch war er insgesamt „sehr zufrieden“ mit Spiel und Ergebnis: „Es war nicht ganz so einfach gegen sehr gut verteidigende und konternde Ukrainer.“

Frei gab es zur Belohnung aber nicht, weil es schon am Donnerstag gegen Polen weitergeht. Am Montagnachmittag setzte Löw eine geschlossene Trainingseinheit an, regenerativ für die Startelfspieler von Lille, mit höherer Belastung für die Reservisten. Dass es noch erhebliches Steigerungspotenzial gibt, sahen auch die mehr als 26 Millionen TV-Zuschauer in der Heimat und Edelfan Angela Merkel im fernen China.

Die Bundeskanzlerin verzichtete auf Schlaf und fieberte um 3.00 Uhr Ortszeit mit. In der Offensive war Julian Draxler der auffälligste Unruhestifter. Mesut Özil, Thomas Müller und Mario Götze zündeten noch nicht wie gewünscht. Und die neuformierte Viererkette um den Kopfball-Torschützen Shkodran Mustafi wankte vor allem im letzten Drittel der ersten Hälfte bedenklich. „Da hätten wir uns nicht beschweren können, wenn die Ukraine das 1:1 schafft“, sagte Kroos.

Hoffnungsvoll stimmte Löw, dass die Kontrolle über Spiel und Gegner nach der Pause besser funktionierte. „Da haben wir das Spiel klar dominiert.“ Auftaktspiele, wissen er und seine vielen erfahrenen Turnierkräfte, sind speziell. Priorität hat allein das Resultat. „Das war das erste Spiel im Turnier mit zwei Toren Abstand“, hob Teammanager Oliver Bierhoff hervor: „Da kann man zufrieden sein.“

Ein Erfolg zum Auftakt ist in der zehnjährigen Ära von Löw stets ein gutes Turnier-Omen gewesen: Seit der EM 2008 gab es nun fünf Siege mit 13:0 Toren, und immer wurde mindestens das Halbfinale erreicht. „Das war jetzt kein super Spiel von uns, aber es war ein ordentliches Spiel“, resümierte Manuel Neuer. Pflicht erfüllt, Haken drunter.

Neben Kroos agierte auch Deutschlands Nummer 1 auf höchstem Niveau. Mit mehreren Paraden sicherte Neuer seinen persönlich 50. Sieg im 66. Länderspiel. Zum 27. Mal stand bei dem 30-Jährigen, der die DFB-Elf als Kapitän anführte, die Null. „Er ist der Welttorhüter“, begründete Löw sein Votum pro Neuer als Vertreter des noch nicht Startelf-fitten Schweinsteiger.

Der wahre Kapitän brauchte nur die Kürze der Nachspielzeit, um ein erstes Ausrufezeichen bei seinem womöglich letzten Turnier-Hurra zu setzen. Löws Auftrag an Schweinsteiger lautete eigentlich, die Führung nach seiner späten Einwechslung mit abzusichern. Aber dann stürmte der Turnierveteran mit einem langen Sprint im Stile des jungen „Schweini“ nach vorne und erzielte nach Maßflanke von Özil das 2:0. Ein magischer Moment. „Unglaublich, dass es sowas gibt, das kann man sich nur wünschen“, sagte Schweinsteiger strahlend.

Es war Schweinsteigers erstes Turniertor seit der EM 2008, als er als 23 Jahre alter „Blondie“ in Basel ähnlich dynamisch das 1:0 beim Halbfinalerfolg gegen die Türkei erzielte. „Das sind genau meine Qualitäten“, scherzte er wie ein junger Lausbub, auch wenn er ehrlich zugeben musste, nach dem „langen Sprint“ doch „außer Atem“ gewesen zu sein. „Die Verletzung ist ausgeheilt“, sagte er zum Zustand seines rechten Knies: „Ich hoffe, dass ich peu à peu mehr spielen kann.“

Mit erhobenem Daumen verließ Schweinsteiger den Stadionrasen. Der Kurzauftritt beseelte den gesamten DFB-Tross, er könnte eine Initialzündung gewesen sein. „Ich denke, das Tor gibt Bastian persönlich und auch uns allen Auftrieb“, kommentierte Löw.

Der Bundestrainer sprach von einer Belohnung für Schweinsteigers „Schufterei“ im Aufbautraining. „Ein Bastian Schweinsteiger ist Gold wert“, lobte Löw. Geradezu euphorisch äußerte sich Neuer: „Ich hoffe, dass Basti so früh wie möglich von Beginn an Spielen kann.“

Löws personelle Optionen haben sich mit Blick auf das Duell mit Polen um Platz eins in Gruppe C erheblich verbessert. Schweinsteiger ist bereit für mehr Minuten. Mats Hummels gab nach Wadenverletzung Grünes Licht für eine Rückkehr schon am Donnerstag in Paris. Aber auch sein Ersatzmann Mustafi konnte sich mit seiner Kampfkraft und dem Tor für einen weiteren Einsatz an der Seite von Abwehrchef Jérôme Boateng empfehlen. „Es war wichtig für mich, meinen Job zu machen und das Vertrauen des Trainers zurückzugeben“, sagte Mustafi stolz.

„Wir sind natürlich schlauer“, bilanzierte Kroos nach Spiel eins von maximal sieben. Ohne Stress kann Löw ab Dienstag die Vorbereitung auf die Kraftprobe mit den gegen Nordirland ebenfalls siegreich in die EM gestarteten Polen um Bayern-Torjäger Robert Lewandowski eröffnen. „Das wird für uns wieder ein harter Kampf werden“, sagte er voraus.