Löw redet Schweinsteiger stark: Erfahrung wichtig
Bordeaux (dpa) - Die neue Heldengeschichte war programmiert, als Bastian Schweinsteiger im EM-Stadion von Bordeaux als fünfter deutscher Elfmeterschütze zum Punkt schritt.
Doch dem Kapitän flatterten die Nerven und zitterten die über 105 Minuten belasteten Knie. Sein Ball flog weit über den italienischen Kasten. Die Traumstory vom Matchwinner, vom zurückgekehrten WM-Helden muss warten. „Es ist nicht so einfach, wenn man so lange nicht gespielt hat“, sagte Bundestrainer Joachim Löw, nachdem es Jonas Hector als entscheidender Elfmeterschütze besser gemacht und ganz Deutschland doch noch in einen Halbfinal-Freudentaumel gestürzt hatte.
Löw redete Schweinsteiger nach dem Viertelfinalerfolg der deutschen Fußball-Nationalmannschaft stark, so wie er den 31-Jährigen schon im gesamten Turnierverlauf und der Vorbereitung gepflegt und gehegt hat. Dem DFB-Chefcoach ist bewusst: Er braucht nach dem verletzungsbedingten Ausfall von Sami Khedira seinen Vertrauten Schweinsteiger wieder auf dem Rasen, auch wenn dessen Defizite im Krimi mit Überlänge von Bordeaux augenscheinlich blieben.
Dem Weltmeister fehlen Tempo und Aggressivität. Er versuchte, dies mit der ganzen Routine von nun 119 Länderspielen zu kompensieren. „Es war schon wichtig, dass ein so erfahrener Spieler auf dem Platz stand“, betonte Löw: „Er hat sich reingequält. Er ist ein Leadertyp.“
Erst bei der EM-Generalprobe gegen Ungarn (2:0) hatte Schweinsteiger nach zwei Knieverletzungen im Jahr 2016 ein kurzes Comeback gegeben. Ganze 38 Minuten stand er in den EM-Spielen vor dem Viertelfinale auf den Platz. Nach seinem spektakulären Treffer beim 2:0 im ersten Gruppenspiel gegen die Ukraine war es ruhig geworden um den Kapitän, der seine Rolle als Ersatzkraft aber klaglos akzeptierte.
Jetzt durfte der Anführer nach der frühen Adduktorenverletzung von Khedira schon in der 16. Minute auf den Platz. Das Aufwärmprogramm fiel aus, Schweinsteiger war „aus dem Nichts“ sofort als Prellbock, Zweikämpfer und Antreiber gefordert.
„Natürlich war es nicht so, dass ich vorher 60 Minuten gespielt habe“, erinnerte Schweinsteiger an seine besondere Situation. Dafür fühle er sich „eigentlich ganz gut, da war ich schon mal erschöpfter“, meinte der Profi von Manchester United nach dem gewonnenen Match gegen die kantigen Azzurri: „Auf jeden Fall hat es mir gut getan.“ Schweinsteiger arbeitete, schloss die Räume, teilte sich klug die Kräfte ein - und hielt bis zum Elfmeterschießen durch.
Genau für einen solchen Moment wie gegen Italien ist Löw mit Schweinsteiger ins Risiko gegangen und hat das Zeitfenster weit nach hinten verlagert. „Bei Bastian Schweinsteiger war klar, dass man ihn im Laufe des Turniers braucht und es solche Situationen geben würde“, sagte Löw nach dem Halbfinaleinzug. Er darf sich bestätigt fühlen. „Dass sich bei solchen Schlachten manchmal Spieler verletzen, ist nicht ungewöhnlich.“ Plötzlich ist die Ergänzungskraft Schweinsteiger auch in Frankreich wieder wichtig. Selbst wenn er von Topform noch weit entfernt ist.
Welche Taktik Löw in Marseille wählt, dürfte sich erst in den nächsten Tagen herauskristallisieren. Schweinsteiger ist auf jeden Fall wieder ein Puzzleteil, mit dem der Bundestrainer seinen Matchplan zurecht schieben kann. „Hoffen wir, dass wir das nächste Spiel nicht wieder im Elfmeterschießen gewinnen müssen“, sagte Fehlschütze Schweinsteiger. „Elfmeterschießen ist immer nicht so einfach. Es ist schade, dass dann ein Spiel so entschieden wird.“
Er habe nach seinem misslungenen Versuch einfach Vertrauen zu seinem ehemaligen Bayern-Kollegen Manuel Neuer gehabt. „Es ist natürlich ein Vorteil, dass wir den besten Torwart auf unserer Seite haben, den es auf der Welt gibt. Das hat man wieder gesehen“, sagte Schweinsteiger. Neuer hat nun auch dafür gesorgt, dass dem Routinier die Chance erhalten bleibt, seine Nationalmannschaftslaufbahn am 10. Juli im Stade de France beim EM-Finale nochmals mit einem Titel zu krönen und damit grandios zu beenden.