Deutschland-Italien Das Elfmeterschießen: Ein Drama in 120 Akten

120 Minuten lang hatten sich Deutschland und Italien neutralisiert, und auch im Elfmeterschießen sollte es keine schnelle Entscheidung geben. 18 Schützen waren notwendig, bevor die DFB-Elf ins EM-Halbfinale einzog — 18 Schüsse zum Haareraufen und Verzweifeln, Schüsse zum Jubeln, Schüsse der Tränen.

Manuel Neuer hält den Elfmeter von Leonardo Bonucci.

Foto: Christian Charisius

Bordeaux. Alle guten Statistiken der Vergangenheit sind keine Garantie. „Man kann sich nicht automatisch darauf verlassen, dass Deutschland weiterkommt, wenn es ein Elfmeterschießen gibt“, sagt Torwart Manuel Neuer später. Nach 120 Minuten geht das Duell wieder von null los.

Lorenzo Insigne, erst während der Verlängerung eingewechselt, macht den Auftakt und trifft. Für Deutschland tritt Toni Kroos an und verwandelt zum Ausgleich.

In der Nachspielzeit der Verlängerung hat Antonio Conte seinen letzten Wechsel genutzt, um Simone Zaza zu bringen. Der 25-jährige Angreifer von Juventus Turin macht Trippelschritte auf den Ball zu, die Show rächt sich — Zaza schießt über das Tor, Italiens Trainer Conte frieren an der Seitenlinie um 23.39 Uhr die Gesichtszüge ein. Thomas Müller schießt für Deutschland, aber kann seinem Team keinen Vorteil verschaffen. Er scheitert an Gianluigi Buffon. „Falls es noch mal zum Elfmeterschießen kommt und einer gebraucht wird, bin ich auf jeden Fall da, aber ich dränge mich nicht mehr auf“, sagt Müller später. „Aus dem Spiel heraus werde ich sicherlich die nächsten zwei Wochen nicht antreten. Ich werde meine Elfmetertechnik überarbeiten und eventuell in ein, zwei Monaten gestärkt wieder zurückkommen. Jetzt lasse ich aber erst mal anderen den Vortritt.“ Andrea Barzagli bringt die Italiener in Führung, und sie haben gleich noch einmal Grund zum Jubeln. Mesut Özil nimmt es genau, zu genau. Er schießt gegen den rechten Außenpfosten, der Ball prallt zur Seite ab. Es ist 23.41 Uhr, als der Blick von Bundestrainer Joachim Löw leer wirkt und in Contes Augen wieder das Feuer brennt.

Italiens Hoffnung hält nicht lange: Der beste EM-Torschütze des Teams, Graziano Pellè, schießt deutlich am Tor von Manuel Neuer vorbei. Für die Deutschen tritt Julian Draxler an. Entschlossen trifft er, Buffon ist in der falschen Ecke. „Sicherlich war ich auch nervös“, sagt der eingewechselte Wolfsburger, „aber man versucht dann einfach, den Elfmeter aufs Tor zu bringen. Es war eine Riesen-Drucksituation, die größte, in der ich jemals war. Viel mehr geht nicht. Gott sei Dank haben wir standgehalten.“

Den Handelfmeter während des Spiels hat Verteidiger Leonardo Bonucci noch souverän zum 1:1-Ausgleich verwandelt. Nun scheitert er an Manuel Neuer. „Wir haben den Vorteil, dass wir den besten Torwart, den es auf der Welt gibt, auf unserer Seite haben“, sagt Bastian Schweinsteiger. Der Kapitän hat es in der Hand, die DFB-Elf ins Halbfinale zu schießen, aber er schießt drüber. „Ich hoffe, dass wir das nächste Spiel nicht wieder im Elfmeterschießen gewinnen müssen“, sagt er nach dem Spiel.

Es geht ins K.-o.-Schießen: Jetzt kann jeder Fehlschuss, jede Parade entscheiden, aber Emanuele Giaccherini kommt mit dem Druck klar. Er bringt Italien wieder in Führung. Für die Deutschen gleicht Mats Hummels aus. „Früher in der Jugend, bis ich 15 war, war ich der Elferschütze schlechthin. Davon ist nicht mehr viel übrig geblieben“, sagt er. Er hat den Druck auf seine eigene Art gelöst: „Du kannst nur verlieren: Wenn du triffst, geht das Elfmeterschießen weiter. Wenn du verschießt, ist Deutschland ausgeschieden. Ich habe zum Glück nicht so viel daran gedacht. Es war nicht mentale Stärke, sondern eher mentale Abwesenheit, was da in meinem Kopf los war.“ Im Mittelkreis habe er noch gewusst, in welche Ecke er schießen wolle. „Das hat sich dann nur noch ganz oft geändert, bis ich am Elfmeterpunkt angekommen war“, berichtet er und wählt einen Schuss, der sich im Training „ganz gut angefühlt“ hatte. Buffon muss das geahnt haben. Er fliegt in die richtige Ecke, kann den Ball aber nicht abwehren. „Glück gehabt“, sagt Hummels.

Marco Parolo trifft humorlos, Italien führt wieder, der Druck lastet auf Joshua Kimmich. „Er hatte ja im Pokalfinale verschossen“, gibt Teammanager Oliver Bierhoff einen Einblick in seine Gedanken während des Elfmeterschießens. „Ich hatte ein bisschen Sorge bei ihm, der Weg zum Punkt war recht lang und langsam, aber ich fand es beeindruckend, wie gerade unsere jungen Spieler aufgetreten sind, die nicht die Stamm-Elfmeterschützen sind.“ Der 21-Jährige trifft und verdient sich den „allergrößten Respekt“ von Mats Hummels: „Er hat souverän geschossen.“ Mattia De Sciglio fackelt wieder nicht lange, sondern trifft. Jérôme Boateng, Verursacher des Elfmeters zum Ausgleich der Italiener, muss ran. „Da macht man sich im Elfmeterschießen einen Riesendruck“, fühlt Hummels mit seinem Mitspieler, „aber er hat ihn dann sehr souverän verwandelt. Das spricht ja für ihn.“ Die Liste der potenziellen Schützen wird immer kürzer: Verteidiger Matteo Darmian, kurz vor Ende der regulären Spielzeit aufs Feld gekommen, findet in Manuel Neuer seinen Meister. „Es war ein Nervenkrieg“, sagt der Torwart, der sich von den Fehlschüssen seiner Mannschaftskameraden bei allem Mitfiebern nicht ablenken lassen wollte. Er hat schließlich selbst genug zu tun: „Ich habe immer versucht, den Schützen zu lesen“, sagt Neuer, der nicht unvorbereitet in das Duell gegangen ist, aber „die Italiener haben nicht ihre bevorzugten Ecken aus der Vergangenheit genommen. Sie wussten, dass ich meine Hausaufgaben gemacht habe.“

Nach den ersten fünf festgelegten Elfmeterschützen „haben wir untereinander kommuniziert, wer jeweils der nächste ist“, sagt Jonas Hector. Nur noch der 26-jährige Linksverteidiger, Benedikt Höwedes und Torwart Neuer haben noch nicht geschossen. Der Kölner läuft an, schießt flach, nicht sehr platziert, aber dafür mit Kraft. Buffon rutscht der Ball unter der Hüfte durch. Fast hätte er den Schuss noch bekommen. „Ja, fast“, sagt Hector, der seit Ewigkeiten keinen Elfmeter mehr geschossen hat. „Ich habe relativ wenig gedacht. Ich hab einfach gehofft, dass der Schuss reingeht. Das war ja im Endeffekt der Fall“, sagt er. „Ich habe nicht unbedingt damit gerechnet, als neunter Schütze noch dranzukommen, aber man kann es sich nicht aussuchen. Dann muss man das Herz in die Hand nehmen und antreten.“ Um 23.49 Uhr ist er der umjubelte Held. Italiens Torwart Buffon geht mit Tränen vom Feld. „Das war ein Drama“, sagt sein deutsches Pendant Manuel Neuer, „dieses Elfmeterschießen, so wie es abgelaufen ist, hat zu dem Duell Deutschland — Italien gepasst.“