Deutschland - Italien Das Drama von Bordeaux
Wie der Weltmeister sein Italien-Trauma besiegt und ins Halbfinale von Marseille einzieht.
Bordeaux. Das hatte schon irgendwie etwas Schicksalhaftes. Ausgerechnet Bastian Schweinsteiger. Manuel Neuer pariert im Viertelfinale der Europameisterschaft in Frankreich gegen Leonardo Bonucci, Deutschlands Kapitän kann jetzt das „Drama von Bordeaux“ zur Geschichte machen. Aber Schweinsteiger scheitert im fünften Versuch, wie im Endspiel der Champions League 2012 gegen den FC Chelsea, vergräbt sein Gesicht in den Händen und schüttelt verzweifelt den Kopf. Alles vergeben. Alles vorbei?
Mitnichten. Mats Hummels gleicht nach Schweinsteigers Scheitern die Führung von Emanuele Giaccherini aus, Joshua Kimmich die von Marco Parolo, Jerome Boateng die von Mattia di Sciglio. Dann hält Manuel Neuer seinen zweiten Elfmeter, Matteo Darmian scheitert an dem grandiosen Welttorhüter, dem „Man of the Match“. Und dann nimmt Jonas Hector vom 1. FC Köln, wie er später gerührt erzählt, “mein Herz in die Hand“ und verwandelt zum entscheidenden 6:5 im Elfmeterschießen im Duell der beiden viermaligen Weltmeister. Das Halbfinale ist erreicht, die enorme Anspannung löst sich in Sekunden, die deutsche Spielertraube feiert das Ende des Italien-Traumas, Bundestrainer Joachim Löw ist erst einmal in der Kabine verschwunden. „Ich brauchte das, einen kurzen Moment der Ruhe“, erzählt er nach dem Spiel des Weltmeisters gegen Italien. Nach der Verlängerung stand es 1:1 (1:1, 0:0). Leonardo Bonucci hatte per Handelfmeter (77.) die Führung durch Mesut Özil (65.) ausgeglichen.
Italiens Trainer Antonio Conte, der den italienischen Verband nach der Euro „und einer Woche Urlaub“ in Richtung Premier League zum FC Chelsea verlässt, sprach nach dem Drama von Bordeaux von „einer Schande, auf diese Weise auszuscheiden. Meine Mannschaft hat wirklich alles gegeben“. Sein Gegenüber Joachim Löw sprach erleichtert von einem verdienten Erfolg. „Ich habe nicht gesehen, dass Italien die Chance gehabt hätte, aus dem Spielverlauf einen Treffer zu erzielen“ analysierte der Bundestrainer eigensinnig.
Es ist selten, dass 18 Elfmeter benötigt werden, um ein Spiel zu entscheiden. „Toni Kroos, Thomas Müller und Mesut Özil waren sofort bereit“, erzählt Löw hinterher, und die anderen „waren dann auch schnell gefunden“. Sowohl Özil als auch Müller scheitern, dann Schweinsteiger. „Ich werde jetzt erst einmal keine Elfmeter mehr schießen“, sagte Müller nach dem Spiel zerknirscht. Vom Glück ist er nicht verfolgt in diesen Tagen der Europameisterschaft. Obwohl er 120 Minuten kämpfte, auch in der Verlängerung noch alles einsetzte, was er hat, unermüdlich unterwegs war. Es funktioniert einfach nicht im Moment.
„Ich habe schon viele Elfmeterschießen in meiner Karriere erlebt, aber so etwas noch nicht“, erzählt Manuel Neuer, „es ist wirklich ein Glück für uns, dass wir im Halbfinale stehen. Das war ein Nervenkrieg“. Neuer stand immer noch im Bann des entscheidenden Augenblicks. „Ich habe die ganze Zeit versucht, mich nur auf mich zu konzentrieren.“ Was nach 120 aufreibenden Minuten keine Kleinigkeit ist. Löw versuchte nachher, die Dramatik in Bordeaux herunter zu schrauben, was aber nicht ging. „Ich habe das ja auch schon früher erlebt, 2006 bei der Weltmeisterschaft in Deutschland im Viertelfinale gegen Argentinien“. Aber 18 Elfmeter, diese enorme Anspannung vor 38764 Zuschauern? „Mich hat vor allem beeindruckt, wie eiskalt Joshua Kimmich und Jonas Hector bei ihrem ersten großen Turnier die Elfmeter verwandelt haben“, sagte der Bundestrainer.
Löw hatte ein Spiel auf „unglaublich hohem taktischen Niveau“ gesehen. Dass er sich am Ende für eine Dreier-Kette in der Defensive entschied, nannte der Bundestrainer „eine absolut unvermeidbare Entscheidung“. Die ihm schon nach dem Achtelfinalsieg der Italiener gegen Titelverteidiger Spanien klar war: „Es war dringend notwendig, die Mannschaft zu ändern, wir mussten gegen die Offensive Italiens das Zentrum zumachen“.
Das größte Problem des Bundestrainers war, schon nach einer Viertelstunde auf den verletzten Sami Khedira verzichten zu müssen. Als er nicht mehr da war, merkte man in Bordeaux, wie wichtig der Mann von Juventus Turin in der Verbindung von Defensive zur Offensive ist. Bastian Schweinsteiger konnte ihn zu keinem Zeitpunkt ersetzen, obwohl Löw erneut zu Lobeshymnen für seinen Kapitän abhob: „Bastian hat sich in das Spiel hineingearbeitet, es ist erstaunlich, wie schnell er sich in Frankreich in Form gebracht hat, solche Spieler sind für Schlachten wie diese unglaublich wichtig.“ Bastian Schweinsteiger bilanzierte trotz des vergebenen Elfmeters: „Ich habe immer noch Vertrauen zu mir. Am Anfang war es nicht so einfach, wenn man reinkommt aus dem Nichts, aber ich fühle mich okay, auch jetzt. Vielleicht habe ich beim Elfmeter zuviel an die Vergangenheit gedacht.“
Die Marschroute von Löw ist klar. „Wenn man im Halbfinale steht, ist das Finale das Ziel. Jetzt wollen wir mehr. Was meine Mannschaft kämpferisch leistet, ist absolut hervorragend.“ Antonio Conte, der seine „Kampfmaschine“ auch gegen viele interne Widerstände in Italien formte, gratulierte überraschend artig: „Wir haben gegen eine Spitzenmannschaft verloren, Deutschland ist Weltmeister, die beste Mannschaft der Welt.“ Allein die Umstellungen von Löw zeigten aber, dass „die Deutschen sehr viel Respekt vor uns haben. Wir haben gegen eine starken Gegner bewiesen, dass wir ein starker Gegner sind.“ Seine Mission ist nun beendet, Conte sagte: „Ich habe nicht zweimal überlegen müssen, als das Angebot von Chelsea kam.“
Italiens Torwart-Legende Gianluigi Buffon weinte bittere Tränen. Auch Schweinsteiger konnte „Gigi“ nicht trösten.