Nationalmannschaft Neuer: „Der ist kein Ausländer, der ist Schalker!“

Nationaltorhüter Manuel Neuer über die EM-Ziele, den FC Bayern München, die Kinderschokoladenaffäre und Joachim Löw als Vorbild im positiven Denken

Manuel Neuer während einer Trainingseinheit im Trainingslager in Ascona.

Foto: Carlo Reguzzi

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Nationaltorwart Manuel Neuer vor dem „Hotel Giardino“ in Ascano.

Foto: Markus Gilliar

Ascona. Im Vormittagstraining hat Manuel Neuer noch beeindruckt mit seiner Ballfertigkeit im beliebten Spielchen Sieben gegen Zwei, für einen Torwart besitzt der 30-Jährige eine außergewöhnliche Technik. Nach dem Duschen kommt der Keeper des FC Bayern München und frischgekürte Doublegewinner dann zum Interview in den Garten eines Hotels in Ascona. Von den Strapazen der anstrengenden Saison kann er sich am Wochenende etwas erholen: Für das Testspiel in Augsburg am Sonntag gegen die Slowakei ist Bernd Leno gesetzt, Neuer darf in Ascona bleiben. Bei Vogelgezwitscher spricht der Weltmeister und 64-malige Nationalspieler bestens gelaunt über die Ziele bei der anstehenden Europameisterschaft, die gute Stimmung in der Mannschaft, sein soziales Engagement und Bundestrainer Joachim Löw: „Er kommuniziert immer, auch wenn er nicht spricht.“

Herr Neuer, vor zehn Jahren gaben Sie gegen Aachen für Schake 04 Ihr Debüt in der Bundesliga. Bei all den Erfolgen, die Sie seitdem errungen haben: Müssen Sie sich manchmal kneifen?

Manuel Neuer: Es ist viel passiert seitdem, ja. Anfangs hatte ich gar keine Zeit, darüber nachzudenken. Es ging alles so schnell. Vieles hat einfach zusammengepasst, hat sich entwickelt. Wir hatten damals einen Lauf, vor allem in den Spielen, in denen ich im Tor gestanden hatte. Das sind tolle Erinnerungen. Heute gehe ich gelassener in die Spiele, aber ich kann gut mit den Jungen mitfühlen und verstehen, wenn sie nervös sind.

Weltmeister, Champions-League-Sieger, deutscher Meister, Pokalsieger, wird Ihnen nicht schwindelig ob der vielen Erfolge?

Neuer: Mein Motto ist immer, egal ob mir etwas Positives oder Negatives passiert ist: Es geht bei null weiter. Das habe ich verinnerlicht. Selbst wenn ich ein Gegentor bekomme und wir zurückliegen, sage ich mir: Ich kann es nicht rückgängig machen, also schaue ich nach vorne. Die von Ihnen genannten Erfolge und vieles was in den zehn Jahren passiert ist, sind schöne Erinnerungen. Aber es gehören auch die negativen Erlebnisse dazu. Sie prägen dich sogar oft mehr in deiner Entwicklung. Ich bin aber generell keiner, der sich lange mit Vergangenem aufhält. Man darf sich auf einem Weltmeistertitel nicht ausruhen. Wir konzentrieren uns auf eine neue Aufgabe, eine neue große Herausforderung: Wir wollen Europameister werden.

Das ist das erklärte Ziel? Die DFB-Elf gilt bei der anstehenden EM als der Favorit . . .

Neuer: Nein, Favorit würde ich nicht sagen, aber Mitfavorit.

Im Vorfeld der WM 2014 waren Sie durch eine Schulterverletzung gehandicapt, jetzt sind Sie topfit. Wie wichtig ist eine gute Vorbereitung?

Neuer: Es ist schön von Anfang an voll dabei zu sein. Die Situation ist besser, weil wir von Beginn an auch die taktischen Trainingseinheiten mit mir zusammen machen können. Außerdem mag ich es zu trainieren anstatt im Behandlungszimmer zu sitzen.

Wie sehr sind Sie als Torwart in die taktischen Überlegungen des Spiels einbezogen? Joachim Löw sagte kürzlich, er benötige eigentlich zwei Mannschaften: Eine für die Vorrunde gegen Gegner, die eher ein Abwehrbollwerk errichten, und eine für die K.o.-Runde gegen Mannschaften, die selbst agieren. Wie relevant ist das für Sie als Torhüter?

Neuer: Es ist richtig, dass wir auch schauen müssen, was der Gegner macht. Wenn wir ständig in der gegnerischen Hälfte spielen, bleibe ich nicht im Fünfer stehen und warte ab, was da vorne passiert. Ich passe mein Spiel an, halte den richtigen Abstand zu meinen Vorderleuten. Ich dirigiere und helfe, das Stellungsspiel der Abwehr zu verbessern. Das sind oft Kleinigkeiten mit großer Wirkung. Gegen eine Mannschaft, die uns unter Druck setzen kann, die Pressing spielt und uns vorne angreift, ist es auch für mich ein anderes Spiel. Ich bin da mehr im Tor gefordert.

Sie sind berühmt für Ihre Ausflüge auf dem Platz und gelten als guter Fußballer. Wer Sie hier in Ascona beim Training beobachtet, muss den Eindruck gewinnen: Kicken macht ihnen Spaß.

Neuer: Ja, klar. Das macht mir natürlich Spaß. Als kleiner Junge habe ich ja auch immer im Feld gespielt. Ich bin noch heute ein Freund davon, den Ball am Fuß zu haben und nicht nur in der Hand.

Vor zehn Jahren wurde auch Joachim Löw Bundestrainer. Was zeichnet ihn aus?

Neuer: Er ist immer mit der Zeit gegangen. So wie sich das Spiel verändert hat, so hat sich auch Jogi Löw kontinuierlich entwickelt. Er ist ständig offen für Neues, orientiert sich international. Es gibt viele Trainer, die haben ihren Spielstil und basta. Der Bundestrainer dagegen entwickelt den Fußball permanent.

Welchen Einfluss hat er auf Sie?

Neuer: Er hat Einfluss auf alle Nationalspieler. Ich finde seine Körpersprache beeindruckend: Er kommuniziert immer, auch wenn er nichts sagt. Er hat eine andere Gestik als beispielsweise Pep Guardiola, der an der Außenlinie mehr in Bewegung ist, man kennt das. Jogi Löw dagegen kann ein sehr ruhiger Trainer sein, der durch seine Erfahrung auch in Stresssituationen besonnen reagiert. Wie Sie sagen, er ist ja schon sehr lange Nationaltrainer, das kommt ihm und uns zugute.

Er scheint auch ein guter Komponist des Kaders zu sein: Wie wichtig ist ein guter Teamspirit gerade bei einem Turnier?

Neuer: Sehr wichtig. Jogi Löw wählt die richtigen Leute aus — nicht nur auf dem Platz, sondern auch im Umfeld. So kommt es, dass man immer gute Laune hat, wenn man zur Nationalmannschaft fährt. Es herrscht nie schlechte Stimmung. Spaß am Tun ist ein wichtiger Faktor: Wir freuen uns auf die Aufgaben, auf die Reisen, auf die Spiele, auf die gemeinsame Zeit. So eine Atmosphäre kann man nicht von unten nach oben erzeugen. Sie muss vom Headcoach vorgelebt und vorgeben werden. Was positives Denken betrifft, ist Jogi Löw ein absolutes Vorbild.

Beim FC Bayern München haben Sie kürzlich Ihren Vertrag bis 2021 verlängert. Ist der Klub für Sie als Schalker Junge mittlerweile eine Herzensangelegenheit oder hält sie hauptsächlich die Aussicht auf Erfolge?

Neuer: Klar steht der FC Bayern für Erfolg. Aber den Verein zeichnen auch das Umfeld aus, die professionellen Mitarbeiter und die richtigen Leute in der Führung. Dazu haben wir eine tolle Mannschaft, in der es richtig Spaß macht, Fußball zu spielen. Es ist auch schön in München zu leben, es ist eine Stadt mit hoher Lebensqualität. Das Gesamtpaket passt.

Mit Ihrer Stiftung „Manuel Neuer Kids Foundation“ setzen Sie sich seit Jahren für benachteiligte Kinder ein. Woher rührt der Antrieb?

Neuer: Ich habe vor Jahren auf einer karitativen Veranstaltung mit behinderten Kindern erfahren, dass im Ruhrgebiet jedes dritte Kind sozial benachteiligt ist. Das hatte ich nicht gewusst und war über die Dimension überrascht. Das hat mir die Augen geöffnet. Ich bin ein Kind des Ruhrgebiets, und da ich damals noch auf Schalke gespielt habe, kam mir der Impuls, mich zu engagieren. Ich bin ja in der glücklichen Situation, dass ich durch meine Popularität viele Menschen erreiche und aufmerksam machen kann. So haben wir viele Projekte umgesetzt und Kindern unterstützen können.

Dieser Tage sorgten Pegida-Anhänger für eine aufgeheizte Diskussion, weil sie sich aufregten über Jugendbilder von Jérôme Boateng und Mesut Özil auf der Packung der Kinderschokolade. War das ein Thema im Team?

Neuer: Null. Man braucht sich ja nicht über Schwachsinn zu unterhalten.

Aber sorgt Sie die ausländerfeindliche Stimmung im Land nicht?

Neuer: Ich glaube nicht, dass die Stimmung kippt. Ich bin im Ruhrgebiet groß geworden. Dort war man jahrelang davon abhängig, dass Integration gelingt. Der Bergbau hätte ohne ausländische Arbeiter nicht funktioniert. Ein Beispiel aus meiner Kindheit: Ich habe mit vier Jahren angefangen auf Schalke Fußball zu spielen. Als ich etwa sieben Jahre alt war, fragte ein Erwachsener, was für ein Landsmann mein Mitspieler denn sei. ‚Das ist doch ein Ausländer!‘, sagte er. Da habe ich geantwortet: ,Nein, das ist kein Ausländer, der ist Schalker.‘ So wird man groß bei uns. Da gibt es keine Unterschiede.

Ist es das, was der Sport vorleben kann?

Neuer: Ganz genau. Er steht für totale Integration. Schauen Sie: Leroy Sané ist aus Gelsenkirchen, Mesut Özil genauso. Im Ruhrgebiet ist das ganz normal. Eine Ausländerdebatte würde hier keiner verstehen.

Am Samstag steht in Augsburg das Vorbereitungsspiel gegen die Slowakei an. Die Einnahmen von rund vier Millionen Euro wird der DFB in seine sozialen Projekte stecken. Spüren Sie als Nationalspieler auch eine Verpflichtung, etwas zurückzugeben?

Neuer: Klar. Die Zuschauer wissen, dass sie mit dem Kauf einer Eintrittskarte nicht nur ein tolles Spiel sehen, sondern dass sie der Mannschaft auch noch einen positiven Schub für die EM geben können. Gleichzeitig tun sie etwas Gutes, weil die Einnahmen für soziale Zwecke verwendet werden. Es ist wichtig, dass wir uns hier als DFB und Nationalmannschaft engagieren. Mir macht es immer großen Spaß, wenn ich meine Stiftung besucht und die Freude der Kinder gesehen habe.