Am Ende schluchzt er und wischt sich Tränen aus den Augen. Man weiß ja manchmal nie bei Günter Netzer, was ein Netzer-Witz ist oder ein ausgesprochener Netzer-Ernst. TV-Mann Gerhard Delling kann ein Lied davon singen. Wahrscheinlich auch Berti Vogts. Aber jetzt im Dortmunder Fußballmuseum ist für etwa 25 Minuten in Gegenwart vieler Freunde und Mitspieler sein Leben links und rechts an ihm vorbei gerauscht, auf großen Leinwänden, man blickt wie im Tennis hin und her, oft 360 Grad.
Mit in Glaskugeln heruntergefahrenen Erinnerungen wie sein Trikot aus Gladbach, jenes schneeweiße auch aus Madrid, seine alten Puma-Treter. Neben Netzer die Familie, Frau Elvira, Tochter Alana, auch Freund Paul Breitner (73). Und dann fragt ihn WDR-Mann Sven Pistor, was das denn nun für ein Gefühl sei, was eine Frage ist, die man sich als Sportreporter eigentlich verkneifen sollte, weil abgedroschen wie kaum etwas anderes. Aber jetzt passt sie angesichts all der Eindrücke und Emotionen. „Ich bin erschlagen. Und angesichts der Bilder, die ich gesehen habe, tief berührt. Das habe ich so komprimiert nie erlebt“, sagt Netzer und weint. Man kann eine Stecknadel fallen hören im Museum.
80 Jahre alt ist Netzer seit einem halben Jahr, er lebt in Zürich, und sein Auftritt hat immer noch etwas so Erhabenes, wie jener in den Siebziger Jahren, die mit ihm in dieser Ausstellung gefeiert werden, als seine Gegner respektvoll zur Seite getreten sein müssen, wenn Netzer mit wehendem Haar herbei stolzierte. Vielleicht ließ er sie auch deswegen so zahlreich stehen. Der Popstar des Fußballs, der niemanden nachahmte, sondern sich von ganz allein selbst erfand. „Vielleicht ist das auch viel Verklärung“, sagt Netzer, als er da vor rund 300 Gästen im schwarzen Anzug und Rollkragenpullover steht. Natürlich: Fußball wird auch dank seiner detailreichen Betrachtung erst so richtig groß. Vor allem in der Retrospektive.
Ein demütiger Wortkünstler
Viele Monate hat das Fußballmuseum mit Direktor Manuel Neukirchner alles vorbereitet, um die erste Sonderausstellung für einen einzigen deutschen Fußballer vorzubereiten, die die WZ als Medienpartner begleitet. Das Ergebnis ist beeindruckend. Und schafft es, Netzer als das zu zeigen, was er auf einem schmalen Seil tänzelnd ist: ein bescheidener Star. Ein demütiger Wortkünstler. Anders, aber nie abgehoben. Und trotzdem herausragend. Das ist die Faszination Netzer, die an diesem Abend in Dortmund wirkt. Auch, weil er sich inzwischen rar gemacht hat und seine Auftritte umso wirkmächtiger sind. „Ich erlebe nicht so gerne Überraschungen. Aber heute überwiegt die Freude“, sagt Netzer in Dortmund.
An diesem Abend kommen einige zu Wort. Paul Breitner, der die beiden Jahre an der Seite von Günter Netzer bei Real Madrid als die „schönsten Jahre meines Lebens“ bezeichnet. Nach der EM 1972 waren die beiden Diven – jede auf seine Art – zu Freunden geworden. Breitners Frau bekochte Netzer mit bayrischen Spezialitäten nach dessen erstem „katastrophalen Jahr in Madrid, als die mich schon wieder verkaufen wollten“. Netzer handelte zuerst Breitners Vertrag in Madrid aus, spielte dann den Nikolaus für die Kinder Breitners – und führte regelmäßig auch deren Familienhund aus. Der habe ihm mal völlig außer Kontrolle eine Schafherde auseinander getrieben, erzählt Netzer. „Ich wäre fast verhaftet worden.“
Borussia-Präsident Rainer Bonhof lobt den Menschen Netzer. „Ich habe den Menschen kennengelernt. Und der ist toll.“ Und Netzer selbst erzählt, wie er Hennes Weisweiler, dem legendären Gladbacher Meistertrainer und Verfechter des allgegenwärtigen Offensivwirbels, einst beibringen wollte, dass das Gladbacher Offensivspiel Pausen bräuchte, wenn man denn dauerhaft Erfolg haben wolle. „Da sagte Weisweiler mir: Netzer, mit ihren Ideen machen sie mir meinen Namen kaputt“, erzählt der Star des Abends. „Weisweiler hat mich und er hat Gladbach gemacht. Gladbach war fußballerisch die beste Zeit. Wir haben gespielt wie kaum ein anderes Team.“
Natürlich ist das ein Überschwang an Gefühlen und netten Worten, die Netzer nur schwer nehmen kann. „Das wirkt ja, als hätte ich sie hier alle bezahlt“, sagt er. DFB-Präsident Bernd Neuendorf erzählt, wie er selbst Netzer als Kind in einem Dorf in der Eiffel wahrgenommen hat: „Ein cooler Popstar, aufmüpfig, mit verpönten langen Haaren“, sagt Neuendorf, der gleichsam die Opposition gegen die Eltern aller Jugendlichen angeführt habe.
In der Installation wird deutlich, wie sehr auch Feuilletonisten und Kulturschaffende das Bild Netzers geprägt haben, der sich mit der legendären Diskothek „Lovers Lane“ in Mönchengladbach etwas Geld hinzuverdiente, weil am Niederrhein nicht annähernd so gut bezahlt worden sei, wie sich die Verheißungen anderer Vereine in Zahlen ausdrückten, aber nie auf dem Konto Netzers landeten.
Und die Nationalelf? „Ich habe nie mit der totalen Hingabe für Deutschland gespielt“, sagt Netzer ehrlich, der im zweiten Teil der Ausstellung „Netzer - die Siebziger Jahre“ auf vielen teils unveröffentlichten Fotos des japanischen Fotografen Masahide Tomikoshi zu sehen ist. Oft pure Fußball-Nostalgie, nah dran. Auch dann etwa, wenn er sich die güldenen Netzer-Haare frisch geduscht in der Kabine der Madrilenen kämmt. „Er hat die Frauen ins Stadion nach Mönchengladbach geholt. Dafür danke ich ihm noch heute“, sagt Bonhof. Für Netzer indes zählen vor allem Frau Elvira und Tochter Alana, die an diesem Abend den vielen rührenden Worten lauschen. Zu seiner Tochter sagt er: „Alana, Du bist das größte Glück meines Lebens.“ Es bleibt ein gutes Gefühl in Dortmund.