Argentiniens Fußball: Gefangen in der Gewaltspirale

Buenos Aires (dpa) - Flehend stand Torwart Pablo Migliore vor dem Richter. „Die einzige Bitte, die ich habe: Beschützt meine Familie“, sagte Migliore, der bis vor kurzem Keeper bei Atlético San Lorenzo war - einem Verein aus Buenos Aires, dessen berühmtester Anhänger Papst Franziskus ist.

Der Torhüter wurde am 31. März festgenommen, da er geholfen haben soll, einen mordverdächtigen Boca-Juniors-Anhänger vor der Polizei zu verstecken.

Nach einer umfassenden Aussage wurde Migliore freigelassen, musste aber mit der Rache der Barra Bravas („Wilde Horden“) rechnen, die ihn als Verräter brandmarkten. Migliore verkündete daher seinen Abschied und unterschrieb einen Vertrag beim kroatischen Serienmeister Dinamo Zagreb. Er wolle San Lorenzo nicht in sein persönliches Problem hineinziehen, hatte er zuvor gesagt. Denn die Barras sind keine normalen Fußballfans, sondern gewaltbereite Gangs, die den argentinischen Fußball kontrollieren und im Wochenrhythmus für Tote, Verletzte, Angst und Schrecken sorgen.

Julio (Name geändert) ist Mitglied der Barra Brava „La Doce“ (Die Zwölf), die bei Argentiniens berühmtesten Club Boca Juniors das Sagen hat. Er sitzt auf einem Plastikstuhl in einem schäbigen Hinterhof im Viertel La Boca in Buenos Aires. Julio trägt Tattoos mit markigen Sprüchen, ihm fehlen einige Zähne. „Bei Euch in Deutschland geht Ihr doch alle nur brav ins Stadion, zahlt Eintritt, kauft ein Getränk und geht wieder nach Hause. Ihr lasst Euch alles gefallen. Wir nicht. Uns gehört der Verein“, sagt er. Julios Mund öffnet sich zu einem breiten Grinsen. „Und wenn uns jemand quer kommt, dann hat er ein Problem“.

Im Oktober vergangenen Jahres haben die Boca-Barras zwölf Sicherheitsleute zusammengeschlagen und kamen ohne Strafe davon. Vor kurzem bedrohten die Barras des Zweitliga-Teams Crucero del Norte die eigenen Spieler aufgrund des drohenden Abstieges mit Messern. Die Auseinandersetzungen unter den Anhängern enden oft tödlich. Allein im vergangenen Jahr sind elf Personen im Rahmen von Fußballspielen ums Leben gekommen. Sie wurden erschossen, erstochen oder totgeprügelt.

„Der Unterschied zur Hooligan-Situation in Deutschland und Europa ist: Die Barra Bravas sind hauptberuflich Barra Bravas“, sagte Gustavo Yarroch, Journalist und Experte für die Gewaltthematik, der Nachrichtenagentur dpa. Der Job umfasst Ticketverkäufe auf dem Schwarzmarkt, Schutzgelderpressung, Drogenhandel. Der Übergang vom Fußball zur organisierten Kriminalität ist fließend.

„Die Barra Bravas werden von den Führungsriegen der Vereine und der lokalen Politik finanziell unterstützt. Im Gegenzug organisieren die Barras den Politikern Wählerstimmen“, sagt Yarroch. Im April erzwangen die Barras vom Hauptstadtclub Huracán den Rücktritt des damaligen Trainers Juan Manuel Llop. Er hatte sich gegen eine finanzielle Unterstützung der Barras von Vereinsseite ausgesprochen. Daraufhin bedrohten diese die Familie des Trainers, Llop hängte seinen Job an den Nagel.

Javier Cantero, Präsident des hoch verschuldeten Traditionsvereins Independiente, ist eine der wenigen aktiven Führungskräfte, die sich öffentlich mit den vereinseigenen Barras anlegen. Er will ihnen „keinen einzigen Peso“ aus der klammen Vereinskasse überlassen. Konstante Drohungen der Barras sind die Konsequenz - die Medien spekulieren über einen möglichen Rücktritt Canteros zu Saisonende.

Die Art der Auseinandersetzungen hat sich im letzten Jahrzehnt verändert. Die meisten Dispute finden nicht mehr zwischen Anhängern verfeindeter Vereine, sondern zwischen konkurrierenden Barra Bravas innerhalb eines Clubs statt. „Hier geht es nicht um Liebe zum Verein, sondern nur um Geld und Macht“, sagt Yarroch. Die durch Gewalt erkämpfte Vorherrschaft im Club garantiert die Geldströme aus den Kreisen der Führungsriegen.

Die Organisation „Salvemos al Fútbol“ (Retten wir den Fußball) kämpft mit bescheidenen Mitteln gegen „institutionelle Gewalt im Fußball“, führt Opferlisten und will Gewalt- und Korruptionsfälle zur Anzeige bringen. Doch die wenigen Engagierten stehen auf verlorenem Posten. Gründerin Mónica Nizzardo hat bereits aufgegeben. „Die Perversion im argentinischen Fußball ist extrem. Alle wissen das, aber anstatt dagegen anzukämpfen, versucht man einfach damit zu leben, als handele es sich um eine unheilbare Krankheit“, schrieb sie in ihrer Rücktrittserklärung vor einigen Monaten.

„Politiker, Polizisten, eigentlich unterstützen uns alle“, sagt Boca-Barra Julio. „Oder sie sind feige und haben Angst vor uns.“ Das Gespräch mit Julio ist so schnell beendet wie es begonnen hatte, was ihn nicht daran hindert mit Nachdruck einen nicht unerheblichen Obolus für seine Aussagen einzufordern.

Am 23. Mai wurden 51 Boca-Anhänger wegen Schwarzmarktaktivitäten festgenommen, doch führende Barra Bravas waren nicht darunter. Ein Paradigmenwechsel der Justiz und Polizei? „Auf keinen Fall“, sagt Yarroch. Der Teufelskreis aus gewaltbereiten, machtversessenen Barra Bravas, korrupten Politikern und Funktionären lässt sich nicht so leicht durchbrechen.