Debatte um Integration Özil trotzig und enttäuscht: „Ist es, weil ich Muslim bin?“
Berlin (dpa) - Der wütende Abgang von Mesut Özil zeigt: Bei deutschen Fußballern und Funktionären liegen nach dem schwachen WM-Auftritt die Nerven blank. Die Debatte um Integration und Rassismus, in die sich Özil mit seiner Generalabrechnung jetzt eingeschaltet hat, läuft nicht weniger emotional.
Özil hat bei vielen Deutschen mit Migrationsgeschichte einen Nerv getroffen mit seiner Klage über „Rassismus und mangelnden Respekt“. Dass sich der Fußballer jetzt mit solcher Verbitterung aus der Nationalmannschaft verabschiedet habe, sei ein „Warnzeichen“, sagt eine Akademikerin mit türkischen Wurzeln. Die junge Frau, die sich seit Jahren auch beruflich mit Integrationsfragen befasst, ärgert sich, „dass die Wutbürger in der öffentlichen Debatte immer mehr Raum bekommen“.
Außenminister Heiko Maas würde das Özil-Thema am liebsten gleich wieder für beendet erklären. Der SPD-Politiker sagt: „Ich glaube auch nicht, dass der Fall eines in England lebenden und arbeitenden Multimillionärs Auskunft gibt über die Integrationsfähigkeit in Deutschland.“
Doch in gewisser Weise ist die Lebensgeschichte des Fußballers aus Gelsenkirchen eben schon typisch für eine Erfahrung, die Menschen machen, deren Eltern oder Großeltern einst als „Gastarbeiter“ nach Deutschland kamen. Sie erleben, dass sie sich entscheiden sollen, wo sie dazu gehören wollen. Und dass die Fragen nach der Identität oft auch dann nicht aufhören, wenn die Entscheidung für Pass und Wohnort schon längst gefallen ist. Der Integrationsforscher Haci Halil Uslucan von der Universität Duisburg-Essen spricht von „Vereindeutschungsdruck“: „Entscheide dich - entweder für dein Herkunftsland oder für das neue Land.“
Hinzu kommt, dass die Vorfahren der türkischstämmigen Menschen in Deutschland für einfache Arbeiten angeworben wurden, sagt Uslucan. „Man hat in den 60er, 70er Jahren ja nicht unbedingt hoch qualifizierte Bankdirektoren und Universitätsprofessoren angeworben.“ Noch heute sei diese Gruppe „eher konservativ, religiös, traditionell orientiert“ - im Gegensatz etwa zu Menschen mit Wurzeln im Iran, die eine „weltliche und westliche Haltung“ zeigten.
In der Türkei sind sie die „Almancilar“, die „Deutschländer“. Diese Wortschöpfung ist kein sonderlich netter Begriff. Und in Deutschland fragen sich Frau Öztürk und Herr Kizil ebenso wie andere Menschen mit ausländischen Wurzeln manchmal, ob sie die Wohnung oder den Job als Frau Schmitz und Herr Hofbauer vielleicht doch bekommen hätten. „Ich bemühe mich immer, besonders höflich zu sein, weil ich dunkle Haut habe. Ich denke, dass die Menschen deshalb bei mir besonders genau hinschauen“, sagt eine Deutsche, deren Eltern aus Eritrea stammen. 60 bis 80 Prozent der türkeistämmigen Menschen geben laut Uslucan in Befragungen an, mindestens einmal im vergangenen Jahr Diskriminierung erfahren zu haben.
Als junger Spieler wird Özil vom türkischen Nationaltrainer Fatih Terim umworben. 2007 lässt er sich in Deutschland einbürgern. 2009 steht er erstmals mit dem Trikot der A-Nationalmannschaft auf dem Platz. 2010 in Berlin, beim Spiel Deutschland-Türkei, pfeifen ihn die türkischen Fans aus. Nach seinem Foto mit Präsident Recep Tayyip Erdogan erlebt er ein ähnliches Szenario. Diesmal kommen die Buh-Rufe von den Deutschen.
Der Bundesvorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland (TGD), Gökay Sofuoglu, gibt Özil in einem Punkt recht: „Ja, wir haben ein Rassismus-Problem“. Wie der Fußballer jetzt mit diesem Thema umgeht, findet er aber „etwas unglücklich“. Sofuoglu sagt, Özil „sollte auch einmal etwas Selbstkritik üben“. Nicht wegen seines Fotos mit Erdogan, sondern weil er das Thema Rassismus „erst jetzt, wo er selbst betroffen ist“, entdeckt habe.
Doch die massive Kritik an Özil schlägt nicht nur unter den Türkeistämmigen hohe Wellen. Sawsan Chebli ist SPD-Politikerin und Staatssekretärin in Berlin. Sie schreibt bei Twitter: „Dass Özil geht, ist ein Armutszeugnis für unser Land. Werden wir jemals dazugehören? Meine Zweifel werden täglich größer. Darf ich das als Staatssekretärin sagen? Ist jedenfalls das, was ich fühle. Und das tut weh.“ Cheblis Eltern sind Palästinenser. Wen meint sie, wenn sie von „wir“ spricht? Wir Nachkommen von Migranten, wir Muslime?
Integrationsforscher Uslucan spricht von einem „Integrationsparadoxon“: Wer in Deutschland aufgewachsen sei und möglicherweise vieles erreicht habe, der stelle seine Zugehörigkeit selbst nicht mehr in Frage. „Wer hier geboren ist, der sagt: Was dem Sebastian zusteht, steht mir auch zu. Punkt. Da mache ich keine Abstriche.“ Umso größer sei die Enttäuschung, wenn man sich benachteiligt sehe.
Özil glaubt auf jeden Fall, dass alles anders gelaufen wäre, wenn seine Eltern aus Polen stammen würden und nicht aus der Türkei. Und er fragt: „Ist es, weil ich ein Muslim bin?“