Algeriens WM-Coup - „Schande von Gijon“ allgegenwärtig
Curitiba (dpa) - Algeriens Spieler verteilten nach ihrem historischen Erfolg ungläubig Küsschen, in der Heimat dauerten die Hupkonzerte bis in den frühen Morgen.
Selbst die Gedanken an den vermeintlich übermächtigen Achtelfinalgegner Deutschland konnten die ausgelassene Freude über das erstmalige Weiterkommen bei einer Fußball-WM nur ganz kurz dämpfen. „Wir sind das kleine, kleine Algerien und spielen nun gegen das große, große Deutschland“, erklärte Trainer Vahid Halilhodzic zu dem brisanten Duell am Montag in Porto Alegre (22.00 Uhr MESZ) - und plötzlich war die „Schande von Gijon“ wieder gegenwärtig. „1982 kann man nie vergessen“, gab Halilhodzic zu. Rachegelüste oder Kampfansagen blieben aber aus.
Erstmal wollte der Außenseiter die wertvollen Momente in Curitiba genießen. Auch der algerische Präsident Abdelaziz Bouteflika gratulierte dem Team zu der „brillanten Vorstellung“. „Mit großem Stolz, der unsere Herzen und die Herzen aller Algerier wärmt, freuen wir uns über das Weiterkommen“, ließ er mitteilen. Durch das 1:1 gegen Russland erreichten die Algerier im vierten Anlauf erstmals ein WM-Achtelfinale. „Es ist ein großer Triumph, aber gegen Deutschland wird es sehr schwierig. Sie sind einer der WM-Favoriten“, sagte der wie die meisten seiner Teamkollegen in Europa spielende Carl Medjani.
Kompliziert und geschichtsträchtig. Algerien war bei der WM 1982 nach seinem sensationellen 2:1-Auftaktsieg gegen Deutschland und einem abschließenden 3:2 gegen Chile ganz nah dran am Weiterkommen. Nur die beschämende deutsch-österreichische Kungelei verhinderte dies. Deutschland besiegte damals den Nachbarn in einem der skandalösesten Spiele der WM-Geschichte mit 1:0. Das reichte beiden Teams, die bedauernswerten Nordafrikaner schieden aus. „Ich habe mich an 1982 erinnert, als die Spieler feierten“, berichtete Noureddine Kourichi emotional aufgewühlt. „Ich habe seit 32 Jahren nicht so einen Moment erlebt.“ Der aktuelle Co-Trainer stand damals im betrogenen algerischen Team.
Ein erneuter Coup gegen Deutschland wie bei der WM in Spanien wird Algerien wohl kaum gelingen. Auch wenn sie sich in der einfachen Gruppe H gegen Belgien (1:2), Südkorea (4:2) und nun Russland (1:1) achtbar schlugen und durch ihren effizienten Konterfußball immerhin sechs Tore schossen, ist die Elf von Bundestrainer Joachim Löw doch ein anderes Kaliber. „Dieses vierte Spiel wird für uns mehr als kompliziert“, sagte Halilhodzic, der sich weniger vom spielerischen Niveau des nächsten Widersachers beeindruckt zeigte als vielmehr von dessen Fitness: „Das deutsche Team rennt nonstop.“
Die körperliche Verfassung könnte in den kommenden Tagen zum Reizthema im algerischen Umfeld werden. Der Ramadan beginnt am Samstag und einige Akteure deuteten bereits an, dass sie das Fastengebot achten wollen. Halilhodzic soll sein Team schon aufgefordert haben, sich angesichts der anstehenden Herkules-Herausforderung und nächsten historischen Chance weiter normal zu ernähren. Fragen nach dem Ramadan blockte er sichtlich verärgert ab.
Ansonsten herrschte nach dem hochverdienten Remis gegen den kommenden WM-Gastgeber pure Euphorie. In der Hauptstadt Algier und vielen Regionen des Landes waren Straßen, Autobahnen und Plätze bis weit nach Mitternacht von mehreren tausend Anhängern verstopft. Auch die große algerische Gemeinde in Frankreich jubelte ausgelassen. Erinnerungen wurden wach an 1990, als Algerien durch den Gewinn der Afrika-Meisterschaft im eigenen Land seinen bisher größten Erfolg zelebrierte.
„Ein Traum ist wahr geworden“, sagte Islam Slimani mit glänzenden Augen. Der Stürmer hatte mit seinem wuchtigen Kopfball zum 1:1 (60. Minute) nach der russischen Führung durch Alexander Kokorin (6.) entscheidenden Anteil an dem Coup. Der bereits zum zweiten Mal zum „Man of the Match“ gekürte Stürmer von Sporting Lissabon rückte aber bescheiden die Rolle des gesamten Teams in den Vordergrund: „Wir haben es verdient. Wir haben eine Seele.“
Halilhodzic hob die Rolle Algeriens als neue Nummer 1 in dieser Region hervor. „Wir sind der Repräsentant der arabischen Welt. Wir können stolz sein“, sagte er. „Wir genießen einen guten Ruf und weltweit viel Sympathie.“