Hymne gesucht — die Welt der WM-Lieder
WM-Songs dienen dem kollektiven Jubel, bedrückendem Fremdschämen und so manch einem Geldbeutel. Eine kleine Sicht auf Vergangenes und Kommendes.
Düsseldorf. Die deutsche Nationalmannschaft hat es getan. Udo Jürgens, Michael Schanze und Herbert Grönemeyer. Auch Gianna Nannini und Shakira. Sie alle haben einen WM-Song aufgenommen. Und viele andere mehr. Will Smith zum Beispiel darf die offizielle Fifa-Hymne zur WM in Russland singen. Coca-Cola steuert die Hauptsponsoren-Hymne bei, ARD und ZDF dudeln ihre eigenen Lieder. Und das DFB-Team wird sicher wieder verraten, was in der Kabine die Motivation befördert. Wie 2006 „Dieser Weg“ von Xavier Naidoo.
Es wird immer konfuser und kommerzieller. Immer mehr. Eine Flut an WM-Hits hat sich über viele Turnier-Jahre angesammelt. Aber was macht einen Hit zu einem Hit? „Das richtige Tempo, der richtige Beat“, sagt Popmusik-Experte Udo Dahmen, Künstlerischer Direktor und Geschäftsführer der Popakademie Baden-Württemberg. Den einen WM-Song gibt es nicht, eher verschiedene Kategorien: Die von den Spielern selbst gesungenen, die Dauerbrenner, die Marketing-Songs — und die umstrittenen.
Zu letzterer Kategorie gehört „Buenos días, Argentina“. Damit brachten Udo Jürgens und die Nationalelf um Maier, Vogts und Rummenigge die deutschen Fußballfans 1978 in Stimmung für die WM — in einem Land, in dem nach einem Putsch die Militärjunta regierte, die brutal gegen das eigene Volk vorging. Zehntausende Menschen starben, unzählige werden bis heute vermisst. „Buenos días, Argentina! Wenn die rote Sonne glüht, rauscht von ferne der La Plata und er singt mit mir ein Lied“, trällerten Udo Jürgens und das deutsche Team. Dass die Junta ihre Opfer von Flugzeugen aus in den riesigen Fluss Río de la Plata schmiss, wurde erst nach der WM bekannt. Bereits während des Turniers aber wurde diskutiert, Diktator Jorge Videla und seinen Generälen den Handschlag zu verweigern. „Buenos días, Argentina! Komm wir reichen uns die Hand“, sangen Jürgens und die Jungs. Es klingt wie Hohn.
1978: „Buenos dias, Argentina“ sang Udo Jürgens mit den Spielern. Foto: dpa
Sollte man Musik, Sport und Politik also trennen? Nein, findet Experte Dahmen. Im Gegenteil: Künstler seien dazu aufgerufen, sich zu äußern und Stellung zu beziehen. Das wünsche er sich auch für Russland.
Doch es geht auch skandalfrei und beschwingt, wie der deutsche Team-Chor 1974 bewiesen hat. Blasorchester-Charakter hat das Kultstück, das die WM-Helden um Franz Beckenbauer, Gerd Müller und Uli Hoeneß im Tonstudio gut gelaunt jodelten: „Fußball ist unser Leben.“ Lässt sich die deutsche Seele besser beschreiben? Am Ende gab’s den Titel.
1974 wurde das DFB-Team-Weltmeister: „Fußball ist unser Leben.“ Foto: dpa
1982 sorgte die Nationalmannschaft mit Entertainer Michael Schanze zur WM in Spanien für ein musikalisches Schmankerl. Land, Titel und Rhythmus sind Programm. „Olé España“ heißt der Song, bei dem unter anderem Toni Schumacher mitträllerte. Die Sportstars erklären den Deutschen unter viel Olé, Olé: „Das Glück hat einen Namen, in Spanien heißt es ,La Felicidad’.“ Und noch wichtiger: „Bist du einmal verliebt in Spanien, wird es so schön sein, wie nie zuvor.“ Immerhin zog das Team im flotten Takt und mit viel Herzklopfen ins Finale ein.
1990 sorgte weniger der Kicker-Chor mit Udo Jürgens („Wir sind schon auf dem Brenner, wir brennen schon darauf“), sondern Gianna Nannini und Edoardo Bennato für Gänsehaut. Mit „Un’Estate Italiana“ schmetterten die Italiener das offizielle WM-Lied. Italien bekam eine Hymne, Deutschland den Titel.
Shakira schaffte die Hymne zur WM 2010 in Südafrika. Foto: dpa
Aus Freddy Mercurys Sicht vielleicht, dass es erst die WM 1994 in den USA geschafft hat, Queens’ Prachtstück in den Hymnen-Olymp zu hieven — dabei hatte er „We are the Champions“ schon 1977 komponiert. Bis heute ist es der Treppchen-Song schlechthin. Eine Einladung zum Feuerzeuge-Schwenken, Schunkeln und Mitsingen muss sich ein Lied eignen, damit es groß rauskommt. Wichtig ist laut Udo Dahmen „die Verbindung aus singbarer Melodie und den richtigen Worten dazu“.
Die richtigen Worte fand 2010 Shakira in ihrem offiziellen Song für die WM in Südafrika: „Tsamina mina zangalewa“ sang sie. Wer versteht es nicht? Ausschlaggebend war wohl die einprägsame Zeile „Waka waka eh eh“. Millionfach hat sich der Song verkauft. Da klingelt die Kasse.
Für Musiker bergen die Titelkämpfe dem Experten zufolge ein hohes kommerzielles Potenzial. Der tatsächliche Erfolg lässt sich oft erst Jahre später feststellen. Bestimmte Songs gehörten dann zur Legende einer WM, sagt Dahmen. Das habe 2014 Andreas Bourani mit „Ein Hoch auf uns“ geschafft. Eine Hymne aus dem Lehrbuch, die wir heute noch schmettern. Beflügelt wurde sein Lied durch das ZDF, das es zum WM-Sender-Song befördert hatte. Wie heuer den englischsprachigen Titel „The Bravest“ der Band Sir Rosevelt.
Andreas Bourani schaffte das 2014: „Ein Hoch auf uns!“ Foto: dpa
Bei der ARD gibt es „Zusammen“ von den Fantastischen Vier und Clueso zu hören. Wer 2018 wohl den großen Hit landet? Neben Fanta 4 treten unter anderem an: Will Smith und Nicky Jam mit der offiziellen Fifa-Hymne „Live It Up“ und Jason Derulo mit „Colors“.
Inoffiziell bewirbt sich auch Adel Tawil mit „Flutlicht“ um die Gunst der Hörer — mit viel „ooh oohs“. So richtig viel Stimmung mag dabei nicht aufkommen, doch „der hymnische Schlussteil hat Potenzial“, sagt Dahmen. Auch Max Giesinger mischt sich ein, wie schon bei der EM 2016 mit „80 Millionen“. Dieses Mal hofft er wohl mit „Legenden“ einen WM-Hit zu landen. Ganz zufällig hat er ihn jedenfalls genau zu Beginn des Fußballsommers veröffentlicht. Welcher Song sich auch durchsetzen wird — wenn wir ihn zu Weltmeisterschaften künftig genauso häufig auspacken wie Grönemeyers „Zeit, dass sich was dreht“ und so oft grölen wie „54, 74, 90, 2010“ von den Sportfreunden Stiller, dann hat er den Titel Hymne verdient.