Urs Siegenthaler: „Deutschland ist der Maßstab“
Urs Siegenthaler, Spielbeobachter und Taktik-Spezialist der deutschen Nationalelf, über die richtige Spielweise bei der WM.
Frankfurt. Urs Siegenthaler kann leidenschaftlich über Fußball debattieren. Mit dem 66-jährigen Schweizer, als Spieler mit dem FC Basel mehrmals Meister und jetzt DFB-Chefscout, sprachen wir kurz vor der Weltmeisterschaft ausführlich über seine Philosophie des Fußballs.
Herr Siegenthaler, die WM in Brasilien wird eine WM der Strapazen. Wie werden sich die klimatischen Bedingungen auf die Art des Fußballs auswirken?
Urs Siegenthaler: Die Frage ist doch, warum eine europäische Mannschaft in Südamerika noch nie den Titel gewonnen hat. Alle sagen, es geht nicht: Aber warum? Die Frage trieb mich um, und deshalb habe ich mir noch mal alle Halbfinal- und Finalspiele angesehen, bis weit zurück in die 70er Jahre.
Und Ihre Erkenntnis?
Siegenthaler: Die Europäer wollten sich in Südamerika immer verwirklichen. Die Engländer wollten so spielen wie in England, die Italiener wie in Italien. Das gilt umgekehrt auch für Argentinien, für Brasilien, wenn sie in Europa spielen. Mein Fazit daraus: Man muss bereit sein, seine Idee vom Spiel auch mal vorübergehend in den Hintergrund zu stellen. Wir müssen mit der Zeit gehen, und jetzt ist WM-Zeit.
Was heißt das konkret?
Siegenthaler: Das heißt, dass die Engländer und alle anderen gut beraten wären, nicht so zu spielen, wie sie es zuhause tun. Bei 43, 44 Grad mittags um ein Uhr hält das keiner durch.
Aber der Ballbesitzfußball der Marke Bayern war ja zuletzt sehr erfolgreich.
Siegenthaler: Ballbesitz heißt auch, ständig zu agieren. Agieren heißt Bewegung. Bewegung heißt Aufwand. Es geht an die körperliche Substanz. Es wird darum gehen, den Ballbesitz mit einem schnellen, guten und zielgerichteten Torabschluss zu beenden. Wir sprechen von Ballprogression.
Ballbesitz mit einem schnellen, guten Abschluss, das klingt nach Fußball, der die deutsche Elf einmal ausgezeichnet hat — und das ist noch gar nicht so lange her.
Siegenthaler: Ganz richtig, dieser Fußball hat uns in der Vergangenheit stark gemacht. Aber Sie wissen ja, wie der Mensch tickt: Wenn er etwas gut macht, stellt sich Zufriedenheit ein, und man lässt ein wenig nach. Dann braucht es wieder einen Anstoß. Der Bundestrainer hat ja nicht umsonst Dinge eingefordert, die einmal die Grundlage dafür waren, dass sich Deutschland vor vier Jahren und geraume Zeit danach einen Namen in der Fußballwelt gemacht hat.
Trügt das Gefühl, der Nationalmannschaft sind die Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit im Spiel abhandengekommen?
Siegenthaler: Es stimmt, und es liegt daran, dass uns gegenüber in der Fußballwelt eine totale Akzeptanz herrscht. Wir sind die Nummer zwei der Weltrangliste. Wir stecken da in einem Lernprozess: Die Rolle, dass wir plötzlich die Favoriten schlagen sollen, müssen wir annehmen.
Der Bundestrainer hat Sami Khedira in den Kader berufen, obwohl er nach einem Kreuzbandriss erst seit kurzem wieder einsatzfähig ist.
Siegenthaler: So eine Persönlichkeit kann viel bewirken. Ein Team braucht Führertypen. Es gibt einen, der in Sachen Empathie beispielhaft ist, es gibt den Mannschafts-clown, es gibt den intelligenten Leader. Bei den Italienern hat Trainer Cesare Prandelli auch Zweifel, ob Andrea Pirlo sieben Spiele durchhält. Eigentlich weiß er jetzt schon, dass Pirlo es nicht schaffen wird. Aber er braucht Pirlo für die Statik des Teams. In diese Kategorie gehört Khedira. Die jungen Spieler schauen auf zu ihm, umso mehr nach dem Sieg in der Champions League.
Und dann kommt er ins Spiel, um neue Impulse zu bringen?
Siegenthaler: Warum nicht? Es wird bei dieser WM extrem wichtig sein, Auswechselmöglichkeiten zu haben, die das Niveau nochmals heben. Ideal wäre es, wenn einer rausgeht und ersetzt wird durch einen, der vielleicht noch stärker ist.
Wie weit sind Sie in der Beobachtung der drei deutschen Gruppengegner Portugal, Ghana und USA?
Siegenthaler: Wir sind fertig, die Analysen liegen alle in der Schublade.
Wie oft haben Sie beispielsweise die USA gesehen?
Siegenthaler: Sieben oder acht Mal. Für mich ist sogar jedes Training ein großes Erlebnis. Nehmen Sie den argentinischen Trainer Marcelo Bielsa, das ist ein ganz Großer. Er hat eine Mentalität wie Hennes Weisweiler. Männer wie Bielsa zu beobachten, ist wichtig, aber aufwendig. Sonst würde uns die Entwicklung des Fußballs davonlaufen. Das geht zack-zack. Die ganz großen Mannschaften sind schon wieder dabei, die anderen abzuhängen.
Ist das Ihr Ernst? Deutschland ist die Nummer zwei der Weltrangliste.
Siegenthaler: Wir sind dran. Wir haben’s gemerkt. Aber es gibt Mannschaften, die verschlafen die Entwicklung ganz gehörig. Da geht vorne etwas.
Was geht denn?
Siegenthaler: Nehmen Sie das Umschaltspiel: Schauen Sie mal, was im internationalen Eishockey nach einem Puckgewinn abgeht. Das Gleiche im Handball. Ich habe unseren Spielern neulich eine Szene aus einem Handball-Länderspiel Deutschland gegen Spanien gezeigt. Da hatte der Ball die Hand des spanischen Spielers beim Torwurf noch gar nicht verlassen, da rannte der deutsche Außen schon wieder in einem Höllentempo nach vorne. Das ist es im Übrigen, was Cristiano Ronaldo so auszeichnet.
Weshalb?
Siegenthaler: Schauen Sie sich seine Tore an, die er erzielt. Phänomenal. Er kommt aus dem Schatten der Verteidiger. Er zieht in einem Spiel nicht fünf-, nicht acht-, sondern 15-mal einen Konter an. Ronaldo bekommt zwar nicht immer den Ball, aber er läuft. Aktion löst eine Reaktion aus, und das verwirrt den Gegner. Er schießt nicht nur von der linken Seite, auch von der rechten, von der halbrechten. Und dann: Bumm und Tor!
Ist der spanische Fußball noch immer das Vorbild für die deutsche Elf?
Siegenthaler: Die Antwort geben Sie sich doch hoffentlich selbst: Real Madrid ist Champions-League-Sieger, Atlético stand im Finale und ist Meister, Sevilla gewann die Europa League, der FC Barcelona ist Vizemeister. Und jetzt fragen Sie, wer die Nation Nummer eins ist? Die Antwort gebe ich Ihnen nicht.
Könnte das Offensivspiel das deutsche Problemfeld werden?
Siegenthaler: Ich sehe als Neutraler die Entwicklung anders als Sie. Deutschland kam von der Weltranglistenposition 16. Wir hatten keine Idee. Die Situation ist heute eine ganz andere. Wenn Sie wie wir seit Jahren immer mindestens im Halbfinale stehen, dann ist das eine überragend gute Leistung. Diese Bilanz hat England nicht, hat Frankreich nicht, hat Holland nicht. Irgendwann wird der Bundestrainer diesen Titelerfolg haben, davon bin ich überzeugt. In vielen Nationen ist der deutsche Fußball bereits der Maßstab.
Es könnte Ihnen ja auch recht sein, wenn die Erwartungen nicht mehr so hoch sind.
Siegenthaler: Unser erstes WM-Spiel gegen Portugal ist ja eigentlich finalwürdig. Da spielt der Weltranglisten-Zweite gegen den Dritten. Das ist das Topspiel. Nicht Holland gegen Spanien, da spielt der Neunte gegen den Ersten. Das wird oft vergessen, und dann heißt es, jetzt fegt mal Portugal weg. Leute, schaut Euch mal die Realitäten an.
Brasilien gilt als Top-Favorit. Beim Confed-Cup war zu beobachten, dass die Selecao sehr oft mit taktischen Fouls operiert hat, um den Spielfluss des Gegners zu unterbinden.
Siegenthaler: Ich habe dieses Phänomen sogar bei der Fifa angesprochen. Beim Confed-Cup wurden bis zu 90 Prozent der Gegenstöße von den Brasilianern mit taktischen Fouls unterbunden. Wenn die Schiedsrichter da nicht durchgreifen bei der WM, dann ist der Pokal schon vergeben. Die Fifa muss das thematisieren.