Martin träumt von Gelb zum Tour-Auftakt
Lüttich (dpa) - Die Hochrechnungen laufen ganz sicher in seinem Kopf. Auch wenn sich Tony Martin beim Kandidaten-Quiz einen Tag vor dem Tour-Start noch ganz entspannt gibt und hinter die Prolog-Favoriten Bradley Wiggins und Fabian Cancellara einreiht - der 27-jährige Wahlschweizer weiß ganz genau:
Selten waren die Chancen auf sein erstes Gelbes Trikot so groß. Im Vorjahr gewann der deutsche Meister seine erste Tour-Etappe beim Zeitfahren in Grenoble. „Natürlich wären ein Sieg und damit mein erstes Gelbes Trikot schön. Man könnte dann die Führung wahrscheinlich ziemlich lange verteidigen, weil die ersten Etappen nicht so schwer sind“, sagte Martin im Hinblick auf den 6,4 Kilometer langen Prolog durch Lüttich, den er zum ersten Mal am Freitag inspizierte.
Er habe zuletzt nicht speziell für den Tour-Auftakt trainiert, räumte der Omega Pharma-Quickstep-Profi ein. „Eigentlich wie vor jedem Zeitfahren, vielleicht ein paar Antritte mehr“, sagte Martin und wirkte dabei eher relaxt als verbissen fokussiert.
Der spindeldürre Wiggins wird Martin die nächsten Wochen - bis zu den Olympischen Spielen in London - besonders beschäftigen. Bei der Dauphiné-Rundfahrt musste er zuletzt eine deutliche Zeitfahr-Niederlage gegen den extravaganten Briten, der sich von einem ehemaligen Schwimmtrainer trimmen lässt, einstecken. Im Prolog, in den beiden Tour-Zeitfahrten der 9. und 19. Etappe in Besancon (41,5 Kilometer) und Chartres (53,5) sowie in London beim Kampf um Gold will Martin ihn schlagen. Sein ehemaliger Berater Erik Zabel traut es ihm zu.
Aber Wiggins fuhr im Frühjahr bei fast jedem seiner Auftritte die Konkurrenz in Grund und Boden und gilt neben Titelverteidiger Cadel Evans sogar als erster Anwärter auf den Tour-Gesamtsieg. „Er hat keine Schwächen. Das gilt für den Prolog, die längeren Zeitfahren und die Berge. Ich hoffe, dass er in diesem Jahr zu früh in Topform war“, meinte Martin zum Thema Wiggins. Für seinen Londoner Goldplan - das olympische Zeitfahren findet am 1. August acht Tage nach dem Tour-Ende statt - will sich Martin auf keinen Fall schonen.
„Ich fahre die Tour hundertprozentig zu Ende, auch, weil ich mir die Chance auf einen Etappensieg beim langen Zeitfahren am vorletzten Tag in Chartres nicht nehmen lassen will. Bei jeder anderen Rundfahrt würde ich vorher aussteigen“, erklärte der Zeitfahr-Weltmeister, dessen Verletzungsfolgen seines Horror-Crashes vom 11. April fast gänzlich überwunden sind. „Nur noch manchmal ein leicht taubes Gefühl im Gesicht“, meinte Martin, der sich bei einem Zusammenstoß mit einem Auto schwerste Verletzungen zugezogen hatte.
Für Cancellara, der in den letzten Monaten einen vierfachen Schlüsselbeinbruch überwinden musste, ist die Industriemetropole Lüttich so etwas wie eine Traumstadt. Beim Tour-Start 2044 holte der Schweizer auf identischem Prologkurs seine erstes Gelbes Trikot. „Ich erinnere mich noch gut - das war auch im Rückblick einer der größten Momente meiner Karriere. Die Strecke liegt mir“, sagte der Zeitfahr-Olympiasieger von Peking.