Herausforderung fürs Hirn Vetter steckt seine olympischen Ziele hoch

Analyse · Speerwerfer Johannes Vetter hat die beste Weite der Saison im Kopf. Er hat Gold vor Augen, aber in der Qualifikation in Tokio größte Mühe.

Qualifikation im Olympiastadion: Johannes Vetter aus Deutschland in Aktion.

Foto: dpa/Michael Kappeler

Der Mann mit dem kühlenden Handtuch im Nacken steckt in einer diffizilen Lage. Johannes Vetter muss nachsitzt. Zwei Mal stellt der 28-Jährige in der Nacht zum Mittwoch seinen Speer in der Qualifikation zu steil an, dass er zu früh vom Himmel kippt. Von wegen einmal anlaufen, draufhauen und fertig.

Der vollmundigen Ankündigung folgt die zittrige Nummer, ehe Vetter mit 85,64 Meter am Samstag (13 Uhr) im Finale steht. Es ist der Wurm drin. Es passt zu wenig zusammen. „Das war eine Rhythmusgeschichte“, sagt Johannes Vetter, wissend im Finale „muss auf alle Fälle noch was kommen“. Sein Ziel: Gold. Immer noch. „Dafür bin ich hier, dafür kämpfe ich.“

Dominanz als Problem doch es scheint, als sei seine Dominanz plötzlich das Problem. In jedem Wort des Weltjahresbesten mit 96,29 Meter schwingt ein wenig Verunsicherung mit. Trotz seiner Serie von 19 Siegen. Oder gerade deswegen. „Hier oben läuft relativ viel“, sagt Johannes Vetter und tippt mit dem Zeigefinger an seine Stirn. „Das müssen wir in den Griff bekommen.“

Die Anspannung und der Druck steigen nach den Trainingstagen mit Badminton-Spielchen und Tischtennis-Matches gegen seinen Freund, Bundestrainer Boris Obergföll, im Vorbereitungscamp in Miyazaki spürbar. Vetter spricht mit seinem Sportpsychologen, Mentalarbeit steht im Hausaufgabenheft des Weltmeisters von 2017.

Wer seit Oktober 2019 seine Konkurrenten dominiert, mitunter mit sieben Metern Vorsprung düpiert, erhöht – garniert mit markigen, selbstbewussten Sprüchen („Ich habe einfach nur Riesenbock“) – allerdings auch die Erwartungshaltung. „Da wurde ich aufgrund meiner sportlichen Leistungen ja gezwungenermaßen reingedrückt.

Das ist jetzt einfach so wie es ist“, sagt Johannes Vetter. Also redet er nicht lange drumherum, nimmt die Rolle des Favoriten an. Was bleibt ihm auch sonst? Zu erdrückend sind die Fakten des Erfolges. Zu sehr gaukeln sie einem vor, unbezwingbar zu sein. Johannes Vetter formuliert sein Gold-Ziel klar. Manchem tut er dies zu forsch.

Der Versuch, sich keinen Kopf zu machen, stattdessen die Konzentration auf das eigene Ich zu lenken, fällt dem Mann, der vor sieben Jahren wegen Boris Obergföll und der Trainingsbedingungen von Dresden nach Offenburg gewechselt ist, zunehmend schwerer. Die innere Gelassenheit schwindet. Vor dem Abflug nach Tokio hat Johannes Vetter mächtig viel um die Ohren, Stress drumrum nennt er es. Mit den Ergebnissen in Gateshead und Thum ist er nicht zufrieden, das bremst die Euphorie.

Die Bombe platzt aber nicht das Selbstwertgefühl, „im Gegenteil: Ich weiß, was ich drauf habe“, sagt Johannes Vetter. Und dass mit 72 Stunden massig Zeit zwischen Qualifikation und Finale liegt. Noch vor einer Woche in Miyazaki meint er dazu: „Das reicht mehr als aus, um ausreichend Körner zu haben und da eine Bombe platzen zu lassen.“ Inzwischen weiß er, dass das Olympiastadion, dieser steile, geschlossene Kessel, trotz des dort verlegten und von ihm geliebten harten Belages nicht für gute Thermik steht.

Doch: Rückschläge aller Art sind für den Olympia-Vierten von Rio keine neue Erfahrung. „Ich bin durch einige Täler durch, auch da habe ich es geschafft durchzukommen. Von daher habe ich auch keine Angst vor Niederlagen“, sagt Johannes Vetter. Er ist gereift. Sportlich nach der Fuß-Operation 2019, privat nach dem Tod seiner Mutter wegen eines Tumors im Gehirn vor drei Jahren. „Richtig verarbeiten tut man so etwas nie“, meint der deutsche Rekordhalter. Und doch habe er danach eine andere Balance im Leben gefunden. Hitzköpfig und ehrgeizig im Training einerseits, ruhiger im Wettkampf andererseits. Denn Johannes Vetter weiß: „Zum Schluss stehe ich da am Anlauf und sonst kein anderer.“