Analyse: Blutbad in Kairo
Kairo (dpa) - Tote, die aus Autos gezerrt werden, blutüberströmte Verletzte, die zum improvisierten Feldlazarett wanken: Die Bilder, mit denen Kairo am Montagmorgen erwachte, wackelig aufgenommen von Handy-Kameras, haben das Land schockiert.
Nach der Entmachtung des islamistischen Präsidenten Mohammed Mursi droht Ägypten ins Chaos abzugleiten. Soldaten des Militärs schossen in Kairo mit scharfer Munition auf eine Demonstration der Mursi-Anhänger. Am Ende blieben mindestens 51 Tote zurück, 435 Menschen erlitten Verletzungen.
Mursi wird seit seiner Absetzung vom Militär an einem unbekannten Ort festgehalten. Die Muslimbruderschaft, der Mursi entstammt, vermutet ihn im Club der Republikanischen Garde, einem Gebäude, das an der Salah-Salem-Straße liegt, die zum Flughafen führt. Beweise für Mursis Anwesenheit dort gibt es keine. Auch der Hergang des Blutbads wird völlig kontrovers dargestellt.
Die Militärführung veröffentlichte eine dürre Erklärung, wonach eine „terroristische Gruppe“ den Club zu stürmen versuchte. Ein Soldat sei getötet, sechs weitere verletzt worden. Über Schüsse auf unbewaffnete Demonstranten verliert das offizielle Kommuniqué kein Wort.
Die Teilnehmer der Kundgebung berichten es ganz anders. „Wir waren gerade beim Morgengebet“, erzählte der 25-jährige Apotheker Abdullah Galal der Nachrichtenagentur dpa. „Sie schossen in die Menge, der Mann neben mir fiel tot um. Ist das Demokratie?“ Der Prediger Scheich Ibrahim al-Sajjid betete in einer Moschee in unmittelbarer Nachbarschaft. „Zuerst feuerten sie Tränengas-Granaten über die Mauer des Hofs, und als wir flohen, schossen sie uns aus automatischen Waffen nach.“
Gehad al-Haddad, der Sprecher der Muslimbruderschaft, wollte nicht glauben, dass eine schlichte Räumungsaktion beabsichtigt gewesen sein soll. „Jede Polizei der Welt weiß, wie man eine Menge auflöst. Dies ist nichts anderes als ein verbrecherischer Akt gegen einen Protest.“
Beide Versionen könnten einen wahren Kern aufweisen. Tatsächlich könnte eine Gruppe von Bewaffneten zum Sturm auf den Offiziersclub angetreten sein - militante Islamisten könnten das ebenso gewesen sein wie Provokateure der in Ägypten weiter funktionierenden Geheimdienste. Verlässliche Quellen zum Hergang gibt es nicht: Aber allein die Opferbilanz von einem toten Soldaten im Vergleich zu mehr als 40 toten Zivilisten legt nahe, dass die Sicherheitskräfte mit unangemessener Gewalt vorgegangen sind.
Der politische Schaden lässt sich noch gar nicht ermessen. Die zivilen Unterstützer des Militärstreichs gegen Mursi haben immer noch keine Übergangsregierung auf die Beine gestellt. Es herrscht ein gefährliches Interregnum, in dem das Militär und die Straße den Gang der Dinge bestimmen. Das Blutbad von der Salah-Salem-Straße hat die
Planlosigkeit der zivilen Akteure noch gesteigert.
Mohammed ElBaradei, einer ihrer Anführer, dessen Ernennung zum Übergangs-Regierungschef am mangelnden Konsens gerade scheiterte, twitterte: „Gewalt erzeugt Gegengewalt und sollte scharf verurteilt werden.“ Er forderte eine unabhängige Untersuchung der Tragödie.
Die Nur-Partei (Partei des Lichts), der islamistische Partner in der Anti-Mursi-Front, kündigte ihren vorläufigen Rückzug aus der Regierungsbildung an. Die ultra-konservative Organisation, die noch bis vor kurzem mit der Muslimbruderschaft verbündet war, ließ über einen Sprecher ausrichten: „Es ist, als ob das alte Regime (von Husni Mubarak) wieder in vollem Harnisch zurück wäre.“ Der gemäßigte Islamist Abdel Moneim Abul Futuh, auch er ein Mursi-Gegner, verlangte den Rücktritt des in der Vorwoche ernannten Übergangspräsidenten Adli Mansur.
Viele befürchten jetzt, dass Ägypten auf einen Abgrund zusteuert. Ohne Regierung, ohne Verfassung, mit Militärs am Ruder und immer zornigeren Islamisten auf der Straße droht eine unaufhaltsame Eskalation der Gewalt. Es ist nicht absehbar, ob sich diese noch stoppen lässt oder ein Alptraum wie in Syrien Realität wird.