Analyse: „Das macht den Wahlkampf nicht leichter“
Berlin (dpa) - Es klingt zynisch. Aber nach dem Tsunami in Japan und dem Atomreaktorunfall in Fukushima Daiichi werden die Karten im Wahlkampf in Deutschland neu gemischt.
Die Bilder der Explosion in der Anlage gehen um die Welt und jeder wird mit einem Schlag daran erinnert: Selbst die sichersten Atomanlagen der Welt sind gegen solche Gewalten nicht gefeit.
Anders als bei Tschernobyl vor 25 Jahren wird die Welt durch Live-Bilder wie am 11. September 2001 Zeuge der Katastrophe. Die meist unsichtbare Gefahr der Kernenergie wird Milliarden Menschen vor den Fernsehschirmen vor Augen geführt.
Es ist ein Zufall, aber an diesem 12. März 2011 demonstrieren zeitgleich zum Drama im Reaktor 1 rund 60 000 Menschen in Stuttgart gegen Atomkraft. Die Laufzeitverlängerung von Union und FDP im Herbst der Entscheidungen hat der Bewegung seit vergangenem Jahr neuen Zulauf beschert; in Berlin demonstrierten im September rund 100 000 Menschen gegen eine längere Zukunft für die Atomkraft und den Castor-Transport nach Gorleben.
Mit Blick auf notwendige Nachrüstungen und den unzureichenden Schutz gegen Passagierflugzeuge stehen der Regierung unangenehme Wochen bevor. All die im Herbst geäußerten Argumente gegen die längeren Laufzeiten, die die Betriebszeiten der ältesten Reaktoren auf fast 50 Jahre erhöhen, finden auf brutale Weise eine Bestätigung. Die Fraktionschef der Grünen im Europarlament, Rebecca Harms, sagt: „Die Erdbebentragödie zeigt Grenzen der Beherrschbarkeit der Atomtechnik auf.“
Der Höhenflug der Grünen mit bundesweiten Werten weit über 20 Prozent speiste sich 2010 vor allem aus dem Kampf gegen die Laufzeitverlängerung. In zwei Wochen, am 27. März wird im Atomland Baden-Württemberg und in Rheinland Pfalz gewählt. Umweltminister Norbert Röttgen (CDU) sagt, eine politische Diskussion in Deutschland sei angesichts der akuten Notlage Japans unangemessen. „Ich halte das, um es ganz zurückhaltend zu sagen, für völlig deplatziert“. Auch Außenminister Guido Westerwelle (FDP) betont: „Jetzt geht es nicht um einen parteipolitischen Streit in Deutschland, der kann warten. Aber die Hilfe für die Menschen, die kann nicht warten.“
Ein anderer führender FDP-Mann gibt aber bereits offen zu: „Das macht den Wahlkampf nicht unbedingt leichter“. Denn das Atomthema polarisiert und Union und FDP müssen sich von der Opposition vorwerfen lassen, mit fragwürdigen Gründen den durch den rot-grünen Atomausstieg befriedeten Konflikt wieder aufgebrochen zu haben.
Unions-Fraktionsvize Michael Fuchs (CDU), einer der lautesten Verteidiger der Kernenergie im politischen Berlin, sagt in der „Welt am Sonntag“: „Es ist nicht berechtigt, aus den Ereignissen in Japan Rückschlüsse auf die Nutzung der Kernenergie in Deutschland zu ziehen.“ In Japan gebe es ganz andere tektonische Gefahren als in Deutschland. Aber natürlich müsse man nun davon ausgehen, „dass von interessierter Seite versucht wird, die ganz anderen Verhältnisse in Japan für eine neue Debatte über die Verlängerung der Laufzeiten deutscher Kernkraftwerke zu nutzen“.
Auch Umweltschützer, SPD, Grüne und Linke betonen, zuallererst müsse jetzt an die von dem möglichen Super-Gau betroffenen Menschen gedacht werden. Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin erklärt „Spiegel Online“, es sei jetzt „keine Zeit für Rechthaberei“. Im gleichen Atemzug betont er aber, es stehe fest, dass auch in Deutschland Atomanlagen stünden, „die genau diesen Störfall nicht beherrschen“. Das Atomkraftwerk Neckarwestheim in Baden-Württemberg etwa sei „nicht ausreichend gegen eine Kernschmelze abgesichert und liegt in einem Erdbebengebiet“. Zwar wird von der „Atomkraft - nein danke“-Fraktion betont, solche Erdbeben drohten hier nicht, es gehe aber auch um das generelle Restrisiko, wie eben Flugzeugabstürze.
Reiner Baake, Geschäftsführer Deutsche Umwelthilfe (DUH) betont: „Die unfassbare Aktualität“ der Massenproteste in Baden-Württemberg habe man sich nicht gewünscht. Fünf Reaktorblöcke an den benachbarten Atomkraftwerks-Standorten Fukushima I und II seien außer Kontrolle. Dass die japanische Atomaufsichtsbehörde sich nicht sicher sei, ob bereits eine Kernschmelze begonnen habe, zeige die ganze Dramatik der Situation.
„Nach Russland (Majak, 1957), den USA (Harrisburg, 1979), der Ukraine (Tschernobyl, 1986) ist nun Japan das nächste Land, in dem sich die nukleare Katastrophe realisiert, die nie passieren darf“, so Baake. Es sei besonders schmerzlich, auf diese Weise mit all den Mahnungen Recht behalten zu haben.
Das Deutsche Atomforum ist um Schadensbegrenzung bemüht und ruft zu einer sachlichen Debatte auf. „Eine Verkettung eines derart schweren Erdbebens und eines schweren Tsunamis ist in Deutschland nicht vorstellbar“, sagt Sprecher Dieter Marx. Die deutschen Kernkraftwerke seien so ausgelegt, „dass die Schutzziele auch bei starken Erdbeben eingehalten werden“.