Analyse: EU im Ringen mit sich selbst
Brüssel (dpa) - Die Botschafter waren in einen als abhörsicher geltenden Raum des EU-Ratsgebäudes in Brüssel geladen. Als die Vertreter der 28 Staaten der Europäischen Union am Montag über eine Verschärfung der EU-Sanktionen gegen Russland berieten, sollte alles ganz geheim bleiben.
Innerhalb der Union birgt derzeit kaum ein Thema so viel Sprengkraft wie die Sanktionen, mit denen Russlands Präsident Wladimir Putin im Konflikt um die Ukraine zu friedlicher Problemlösung verleitet werden soll.
Offiziell ging es nur darum, die bisher 33 Namen umfassende Liste von Russen und prorussischen Ukrainern zu erweitern, deren Konten in der EU gesperrt werden und die nicht mehr in die EU einreisen dürfen. Aber über diese neue Liste war man sich schon vor Ostern einig geworden, sagten Diplomaten. Ganz anders sieht es jedoch beim nächsten Sanktionsschritt aus: Bei weiterer „Destabilisierung der Lage in der Ukraine“ durch Russland drohten die EU-Staats- und Regierungschefs im März „weitreichende Konsequenzen“ an. Die würden dann „eine Vielzahl von Wirtschaftsbereichen betreffen“.
Doch die Europäische Union tut sich schwer mit den „weitreichenden Konsequenzen“. Deutlich schwerer als die USA, wo Präsident Barack Obama ungeduldigen Kongressabgeordneten klarmachen muss, dass es sinnvoll sei, auf US-Alleingänge zu verzichten: „Die Vorstellung, dass es die wirksamste Abschreckung für Putin wäre, wenn wir ohne die Europäer mit sektoralen (Wirtschafts-)Sanktionen vorangehen, ist meiner Ansicht nach falsch.“
Kurz vor Ostern hatte die EU-Kommission jedem der 28 EU-Botschafter einen versiegelten braunen Umschlag zugesteckt, in dem die EU-Behörde darlegte, wie sich einzelne Wirtschaftssanktionen gegen Russland für das jeweilige EU-Mitglied auswirken würden. Ganz vertraulich sollte das sein, führte aber unverzüglich zur Forderung, man wolle solche Zahlen bitte auch EU-weit und möglichst transparent diskutieren.
Die Europäische Union hat hinsichtlich der Wirtschaftssanktionen gegen Russland zwei Probleme: Erstens ist sie viel stärker betroffen als die USA, zweitens haben die verschiedenen EU-Länder höchst unterschiedliche Interessen.
Russland ist für die EU der drittgrößte Handelspartner, ein wichtiger Kunde von Maschinen und Anlagen. Die EU ist für Russland der wichtigste Handelspartner überhaupt: Sie kaufte im vergangenen Jahr Waren im Wert von 213 Milliarden Euro, vor allem Öl und Gas. 30 Prozent der Gas- und 35 Prozent des Ölversorgung der EU werden durch Russland gedeckt. In Deutschland sind es nach Angaben der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) sogar 36 und 39 Prozent.
Für die USA rangiert Russland hingegen auf Platz 23 der US-Handelspartner. Ganze 8 Milliarden Euro waren die Exporte der USA nach Russland im vergangenen Jahr wert. Und nur für 19,5 Milliarden Euro importierten die USA vor allem Öl aus Russland.
Die wesentlich höhere wirtschaftliche Abhängigkeit der EU vom Handel mit Russland geht umgekehrt auch mit größerer Bedeutung der EU für Russland einher: Öl und Gas machen fast 70 Prozent der gesamten russischen Exporte aus, das Staatsbudget wird etwa zur Hälfte aus den Ölexporten finanziert.
Manche Diplomaten in Brüssel verweisen darauf, der Kalte Krieg der 70er- und 80er-Jahre habe keinen Einfluss auf die Energielieferungen aus der damaligen Sowjetunion gehabt. Andere erinnern daran, dass Russland 2006 und 2009 gegenüber der Ukraine ohne Zögern die Energie als politische Waffe genutzt habe. Die Folgen eines russischen Lieferstopps für die EU-Staaten, allen voran die deutsche Konjunkturlokomotive, seien kaum abschätzbar.
Die Sanktionsdebatte im Kreis der EU-Regierungen wird dadurch erschwert, dass die einzelnen Ländern sehr unterschiedlich betroffen sind. Frankreich beispielsweise liefert militärische Güter an Russland, Deutschland hat die höchsten Investitionen in Russland, Großbritannien könnte wichtige Anleger verlieren und die Banken in Zypern, Griechenland und Bulgarien haben milliardenschwere russische Oligarchen als Kunden.