Analyse: Bürgerkriegsgefahr in Ostukraine wächst
Moskau/Slawjansk (dpa) - Die Gewalt im Osten der Ukraine nimmt zu. Erneut nehmen prorussische Kräfte in der Stadt Slawjansk mehrere Geiseln - angeblich bewaffnete Nationalisten, die für die Einheit des Landes kämpfen.
Wjatscheslaw Ponomarjow, selbsternannter Bürgermeister von Slawjansk, macht keine Anstalten, die festgesetzten Militärbeobachter, unter ihnen drei Deutsche, freizulassen. Der ukrainische Geheimdienst SBU beziffert die Zahl der „Gefangenen“ inzwischen auf 40. Wieder fallen Schüsse - in Charkow schwebt Bürgermeister Gennadi Kernes nach einem Anschlag in Lebensgefahr.
Machtlos muss die Führung in Kiew zuschauen, wie das Land einem Bürgerkrieg immer näher kommt. Die Forderungen an Russland, sich von den Separatisten zu distanzieren und der Gewalt Einhalt zu gebieten, werden immer lauter. Kremlchef Wladimir Putin sieht sich zunehmend dem Vorwurf ausgesetzt, die „Terroristen“ zu unterstützen. Doch Moskau bleibt wortkarg - und empört sich allenfalls über die neuen Sanktionen des Westens, der aus russischer Sicht keinen Schimmer von den Vorgängen in der Ukraine hat.
Zwar beteuerte Außenminister Sergej Lawrow zuletzt, Russland habe keine „Hebel“, um die Lage beeinflussen. Aber mit ihren inszenierten Auftritten in russischen Staatsmedien lassen die Wortführer im Raum Donezk kaum Zweifel, dass sie im Auftrag Moskaus handeln.
Die kremltreue Boulevardzeitung „Komsomolskaja Prawda“ bringt am Montag groß ein Interview mit Igor Strelkow, der sich als Kommandierender der Donbass-Streitkräfte ausgibt - und vom SBU in Kiew zur Fahndung als Agent des russisches Militärgeheimdienstes GRU ausgeschrieben ist. Im Interview lässt Strelkow durchblicken, dass im Moment nicht ganz klar ist, wie sich der Konflikt nun entwickelt.
Die „Selbstverteidigungstruppen“ seien aber auch bereit zu töten, um ihr Ziel zu erreichen - das Ziel, Teil einer Föderation mit weitreichenden Autonomierechten zu werden. „Ein Teil der Leute brennt vielleicht nicht für den Wunsch eines Beitritts zur Russischen Föderation. Aber auf jeden Fall wollen sie nicht unter der Führung leben, die die Macht in Kiew an sich gerissen hat“, sagt Strelkow. Russland selbst hat eine Ukrainische Föderation ins Spiel gebracht, über die es aber ein Referendum geben müsste.
Es gehe darum, die Ukraine von der „Junta“ in Kiew zu befreien, sagt Strelkow. Es ist dieselbe Wortwahl, die der Ex-Geheimdienstchef Putin benutzt. Putin, der immer wieder beteuerte, es gebe dort weder russische Geheimdienstler noch Militärs. Mit „Junta“ ist die von der EU und den USA unterstützte neue Regierung gemeint, die seit dem Sturz von Präsident Viktor Janukowitsch im Februar an die Macht ist - und die auf die Präsidentenwahl am 25. Mai als Ausweg aus der Krise setzt.
Ob es zur Wahl kommt, ist offen. Putins Sprecher Dmitri Peskow teilte erst kürzlich mit, dass der Kreml verschiedene Szenarien für die Entwicklung sehe. Es gebe im Kreml einen „Plan A, B, C, D“. Dass aber Russland mit den an der Grenze bereits aufgerüsteten Truppen in die Ukraine einmarschieren könnte, hatten zuletzt Föderationsratschefin Valentina Matwijenko, aber auch Putin selbst bestritten.
Von einem nahenden Krieg zwischen Russland und der Ukraine mag weiter niemand sprechen in Moskau - im Gegensatz zur Führung in Kiew, wo Regierungschef Arseni Jazenjuk Putin sogar vorwarf, einen dritten Weltkrieg anzetteln zu wollen. Vielmehr ist in Russland die Meinung verbreitet, dass Moskau ja nur zusehen brauche, wie sich die vor dem Staatsbankrott stehende Ukraine mit ihrer demoralisierten Armee selbst zerlege.
Den Politikern in Kiew gleite die wirtschaftliche Kontrolle der Lage zunehmend aus den Händen, kommentiert die Moskauer Zeitung „Kommersant“. Die Währung Griwna schwächelt weiter. Im Mai/Juni werde die Krise in ihre schlimmste Phase treten. Dann wird Russland auch die Milliardenschulden für Gaslieferungen einfordern.
Einen Anschluss des wirtschaftlich maroden Ostens und Südens der Ukraine nach dem Vorbild der Schwarzmeerhalbinsel Krim plane Russland derzeit aber nicht, hatte die Führung in Moskau zuletzt mehrfach betont. Grund für die Zurückhaltung sind wohl auch die drohenden deutlich schärferen Sanktionen des Westens, die Russlands schwächelnder Konjunktur zunehmend Probleme machen.