Analyse: Europas Tabubruch an der Riviera
Cannes (dpa) - Ständig neue Entwicklungen im griechischen Schuldendrama stürzen die Europäische Union in eine beispiellose Krise. Zum G20-Gipfel in Cannes demonstrierten die Europäer ihren internationalen Partnern wie Brasilien, China oder den USA entwaffnende Hilfslosigkeit.
Weil Griechenland einseitig und völlig unvermittelt eine Volksabstimmung zu den EU-Hilfsmilliarden ansetzte, geriet das gesamte Gefüge der auf Konsens, guten Willen und Solidarität ausgerichteten EU ins Wanken.
Der sozialistische Regierungschef Giorgos Papandreou zog auf Druck der Euro-Partner das äußerst umstrittene Abstimmungs-Vorhaben am Donnerstag zwar wieder zurück. Er will nun eine Übergangsregierung unter Einschluss der Opposition bilden. Es bleiben aber viele Fragezeichen. Die Unsicherheit werde noch lange dauern und Europa belasten, meinten Gipfelteilnehmer an der wolkenverhangenen Côte d'Azur.
Die EU hatte in ungewöhnlicher Härte reagiert. Noch nie wurde ein einzelner EU-Partner so offen unter Druck gesetzt und an den Pranger gestellt. Kanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy sprachen in der Krisennacht im klotzigen Festivalpalast am Hafen das aus, was bisher nur gedacht werden durfte: Entweder hält sich Schuldensünder Griechenland an die Regeln - oder er muss die Eurozone verlassen.
Der französische Europaminister Jean Leonetti brachte es auf die Formel: „Der Euro und Europa können den Austritt Griechenlands überstehen.“ Das Credo von CDU-Chefin Merkel lautet: „Wir sind gewappnet.“ Der Vorgipfel drohte auch mit einem glasklaren Ultimatum: Neues Geld für Athen gibt es nur, wenn sich die Griechen klar für den Verbleib im gemeinsamen Währungsgebiet aussprechen.
Das eigentlich Gefährliche an der Schuldenkrise ist die Ansteckungsgefahr. Ein Krisentreffen von EU-Spitzen mit dem angeschlagenen italienischen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi dauerte am Rande des Gipfels viel länger als geplant, da Teilnehmer lange mit ihren Hauptstädten telefonieren mussten.
Das Festivalgebäude, wo jedes Frühjahr Filmstars über den roten Teppich defilieren und mit der „Goldenen Palme“ geehrt werden, hat sicher glanzvollere Augenblicke gesehen. Schon ist auf den Fluren zu hören, dass Rom europäische Vorsorge-Kredite zur Absicherung erhalten soll.
Offiziell bestätigt wird dies aber nicht. Das hoch verschuldete Bella Italia ist die drittgrößte Volkswirtschaft der Eurozone - Berlusconi musste schon beim EU-Gipfel Ende Oktober in Brüssel Sparzusagen machen, um die besorgte Partner und die Finanzmärkte zu beruhigen.
Die Beratungen ziehen sich scheinbar endlos hin. Kein Wunder. Denn es geht nicht mehr nur um Griechenland, sondern um den Euro, und damit auch um Europa. Ein Scheitern des knapp 13 Jahre alten Euros würde den alten Kontinent politisch um Jahrzehnte zurückwerfen, heißt es in Cannes.
US-Präsident Barack Obama fürchtet globale Schockwellen - und die kann er kurz vor dem Wahlkampf überhaupt nicht gebrauchen. „Unsere wichtigste Aufgabe in den nächsten zwei Tagen ist es, die Finanzkrise in Europa zu lösen“, meint er beim Eintreffen in dem südfranzösischen Seebad vor laufenden Kameras.
Protagonisten im Kampf für den Euro sind Merkel und Sarkozy. Sie agieren nach eigenen Angaben an vorderster Front. Sie pochen auf gemeinsame Regeln, die eingehalten werden müssen.
Dass es ums Ganze geht, wird nicht verschwiegen. „Wir möchten nicht, dass der Euro zerstört wird, und wir möchten auch nicht, dass Europa zerstört wird“, hämmert ein angespannter und müde wirkender Sarkozy seinen Zuhörern zu nächtlicher Stunde ein.
Für beide birgt die Rettungsaktion unter dem EU-Sternenbanner erhebliche innenpolitische Risiken. Der konservative Sarkozy will nächstes Jahr wiedergewählt werden. Merkel hingegen kämpft im heimatlichen Berlin mit Rissen in ihrer schwarz-gelben Koalition.