Analyse: Gabriels Offensive
Leipzig (dpa) - Viele Delegierte sind müde und verkatert vom Parteiabend. Der bis hierhin recht triste Bundesparteitag der SPD schleppt sich seinem Ende entgegen.
Auf der Tagesordnung steht noch ein Leitantrag des Vorstands mit dem Titel: „Starke Kommunen für ein gerechtes Land.“ Sigmar Gabriel ergreift noch einmal das Wort - und hält plötzlich eine vielleicht noch denkwürdige Rede.
Am Morgen hat der SPD-Chef die Baustelle einer Moschee in Leipzig beucht, wo fünf blutige Schweineköpfe auf Holzpflöcke gespießt worden waren. „Da, wo Städte nicht in Ordnung sind, wo sie verwahrlosen, haben Rechtsextremismus und Rechtspopulismus viel größere Chancen“, fängt er an. In Mecklenburg-Vorpommern gebe es Orte, die kein Geld mehr hätten, und in denen die NPD dann die Jugendarbeit übernehme. „Spätestens da müssen wir doch merken, dass der Dachstuhl brennt.“ Gabriel sagt: „Verwahrloste Städte und Gemeinden, liebe Genossinnen und Genossen, erzeugen verwahrloste Köpfe und Seelen.“ Es gelte die Städte sozial gerecht zu gestalten. Die Delegierten klatschen.
„Jetzt kommen wir aber zu der Frage: Wie machen wir das?“, sagt Gabriel. Das habe sehr viel mit der Debatte um die große Koalition zu tun, mit der Frage, ob die SPD mitgestalten will. Der Parteitag sei ein Parteitag des Übergangs, der zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt stattfinde. Gabriel spürt die tiefe Verunsicherung. Nach seiner nachdenklichen, schonungslosen Rede zur Lage der Partei am Donnerstag zum Auftakt hält er nun eine Rede, die den Weg Richtung große Koalition weisen könnte. Dramaturgisch ist das geschickt.
Damit dreht er ein wenig diesen „Parteitag in November-Moll“, wie es ein Vorstandsmitglied formuliert. 31 Minuten dauert die Rede, für die es dreimal so langen Applaus gibt wie für seine Bewerbungsrede vor der Wiederwahl. Gabriel ist gerührt, anders als am Donnerstag, stehen die 600 Delegierten auf und feiern ihn.
Beim Parteiabend hatten ihm Strategen dazu geraten, noch einmal in die Bütt zu gehen. Auch er selbst sah das offenbar als geboten an. Ob der reihenweise verteilten Denkzettel bei den Vorstandswahlen hatte sich gezeigt: Das Mitgliedervotum der SPD im Dezember über den Eintritt in die große Koalition wird definitiv kein Selbstläufer.
Gabriel kritisiert, dass mit seinem Stellvertreter Olaf Scholz jemand mit nur 67 Prozent Zustimmung abgestraft wurde, der 2011 in Hamburg die absolute Mehrheit für die SPD errungen hat. Aber: Scholz ist auch ein engagierter Befürworter der großen Koalition.
Dann geht Gabriel voll ins Risiko. „Ich werde der SPD keinen Koalitionsvertrag vorlegen, in dem die doppelte Staatsbürgerschaft nicht drin ist“, sagt Gabriel. Es ist nach dem bundesweiten Mindestlohn von 8,50 Euro nun das zweite „Muss“ der SPD für einen Koalitionsvertrag. „Jetzt müsst Ihr liefern, liebe Leute von der Union“, ruft Gabriel. Hat er schon klare Signale der Union für eine Einigung auf einen Doppelpass für in Deutschland aufgewachsene Türken? Zudem pocht er auf eine Rente ab 63 bei 45 Beitragsjahren, damit LKW-Fahrer und Steinmetze - wie er sagt - früher in Ruhestand gehen können.
Gabriels Offensive dürfte die Koalitionsverhandlungen in Wallung bringen. Die Taktikphase wird abgelöst von der Entscheidungsphase. Schleswig-Holsteins Landeschef Ralf Stegner spricht anschließend von einem Weckruf an die Union. Aber nicht nur, sondern auch an die SPD.
Denn Gabriel senkt plötzlich die Stimme, es ist ganz leise in der Messehalle. Es folgt ein Appell an die Verantwortung aller beim Mitgliedervotum. „Wir alle sind die Führung der Partei!“ Wenn die von der Partei aufgestellten Kernforderungen von der Union erfüllt würden, könne sich die SPD nicht verweigern. Und dann energischer: „Wenn das alles im Koalitionsvertrag steht, verdammt nochmal, dann dürfen wir doch keine Zweifel daran lassen, dass wir den unterschreiben und mehrheitsfähig in der SPD machen.“ Er rüttelt die Delegierten wach, hämmert ihnen ein, welche Bedeutung die Frage haben wird. Sie sollen das in alle Ebenen der Partei hineintragen.
„Dann geht es um die Zukunft der Sozialdemokratie in den nächsten 20, 30 Jahren“, ruft er. Keiner in Leipzig will sich ausmalen, was bei einem Nein droht. Angesichts der Skepsis stellt sich auch die Frage, ob es klug für Gabriel wäre, als Vizekanzler ins Kabinett zu gehen. Die Variante als Fraktions- und Parteichef würde ihm mehr Spielraum geben, den für die SPD so schwierigen Koalitionsprozess zu moderieren - vielleicht wäre es auch die bessere Variante für eine Kanzlerkandidatur 2017. Dann müsste aber Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier ins Kabinett - doch soweit ist die SPD längst noch nicht.
Leipzig hatte bis dahin gezeigt: Es drohte sich eine Eigendynamik Richtung Ablehnung zu entwickeln. „Wenn die Führung, und dazu gehört ihr auch, wenn die wackelt am Ende, dann wackelt die ganze Partei“, mahnt Gabriel eindringlich. „Und dann geht es um mehr als um die Koalitionsverhandlungen.“ Am Ende schlägt er dann nochmal mit einem Grinsen den Bogen zum Tagesordnungsthema: „Das wollte ich euch am Beispiel der Kommunen einmal gesagt haben.“ Die Delegierten lachen. Und erheben sich zum Applaus.