Analyse: Peer Steinbrück zieht den Kampfanzug an

Augsburg (dpa) - Nach einer Minute hat Peer Steinbrück das Wichtigste gesagt. Er kann eigentlich aufhören. „Ich will Kanzler der Bundesrepublik Deutschland werden“, ruft er gleich zum Beginn seiner Rede beim Bundesparteitag.

600 Delegierte jubeln, klatschen fast zwei Minuten lang. „Das war's schon.

Wir können zur Beratung der Anträge kommen“, bemerkt Steinbrück von seinem roten Rednerpult aus. Der Jubelsturm zeigt, worum es geht in Augsburg. Fast zur Nebensache gerät, dass am Sonntag einstimmig das Wahlprogramm beschlossen wird, das unter anderem einen Mindestlohn von 8,50 Euro vorsieht.

Das ungeschriebene Gesetz in der Messehalle lautet: Bloß keinen Zweifel aufkommen lassen. Vorwärts, irgendwie. Mut, Kampfgeist und Geschlossenheit unter Beweis stellen. Zeigen, dass Steinbrück es kann, wie SPD-Altkanzler Helmut Schmidt prognostizierte. Zeigen, dass er tatsächlich einen Wahlkampf für mehr soziale Gerechtigkeit führen kann. Zeigen, dass Umfragen keine Wahlergebnisse sind.

Der Aufbruch von Augsburg gelingt - zumindest was die Stimmung in der SPD anbelangt. Es ist die Gratwanderung zwischen Schein und Sein. „Auf in den Kampf. Noch 161 Tage“, ruft Steinbrück am Ende seiner 80 Minuten langen Rede. Die Delegierten applaudieren gut acht Minuten lang - etwas kürzer als beim Nominierungsparteitag in Hannover.

Steinbrück rechnet unter der Überschrift „Deutschland wird unter Wert regiert“, erst einmal mit Schwarz-Gelb ab. Die Aussage von Bundeswirtschaftsminister Philipp Rösler (FDP), Deutschland sei das coolste Land der Welt, zerpflückt der 66-Jährige. „Es ist alles andere als cool, Herr Rösler, dass sieben Millionen Menschen für weniger als 8,50 Euro arbeiten und ungefähr 800 000 Vollzeitbeschäftigte für weniger als 6 Euro.“ Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hält er ein Auseinanderdriften der Gesellschaft in Deutschland vor: „Abwahl lautet die Parole bei dieser Bilanz.“

Seit Jahren gebe es eine Umverteilung von unten nach oben. Der Kapitalismus müsse endlich gebändigt werden: „Nie wieder darf der risikofreudige Spekulant XY aus New York, London oder Frankfurt das Ersparte von Heidi Tibulski aus Bottrop gefährden können.“ Mit Alltagsbeispielen versucht er, die SPD als „Partei der kleinen Leute“ zu stärken. Steinbrück will Politik aus Sicht der Bürger machen.

So erzählt er von Martin, einem Studenten der im Frankfurter Nordend eine Wohnung für 400 Euro übernehmen will. Doch als Martin mit dem Vermieter spricht, sagt der ihm, die Wohnung koste nun 520 Euro, zudem soll er 1200 Euro Maklerprovision zahlen. „Also hopp oder top“, sagt Steinbrück. Er will, dass bei Neuvermietungen nur noch Erhöhungen um zehn Prozent erlaubt sind. So würde Martin 960 Euro pro Jahr sparen. Die Maklergebühr solle der Vermieter zahlen.

Selbst die sonst recht kritische Parteilinke Hilde Mattheis lobt Steinbrück: „Das war eine wunderbare Rede.“ Die Delegierten waren in gedrückter Stimmung nach Augsburg gekommen - die Erwartungen werden heruntergeschraubt. „Wir müssen irgendwie 31 Prozent holen und beten, dass die Grünen 15 Prozent bekommen“, sagt ein führender Sozi. Dafür müssten Splitter- und Kleinparteien zusammen fast fünf Prozent holen. Die SPD hadert mit den Medien, die vieles aufbauschen würden. Steinbrück fragt, ob das Land nicht größere Probleme habe, als sich mit einer Leiharbeiterfirma zu beschäftigen, die den Slogan „Das Wir gewinnt“ schon seit 2007 nutzt.

„Hätte, hätte Fahrradkette“ - diese Steinbrück-Antwort auf die Frage, ob die PR-Agentur vorher nicht hätte besser recherchieren müssen, lässt sich bisher auf vieles im Wahlkampf anwenden. Neuen Kampfgeist erzeugt in Augsburg ausgerechnet Guido Westerwelle: Das SPD-Motto „Das Wir gewinnt“ erinnere ihn an das frühere SED-Motto „Vom Ich zum Wir“, hatte der FDP-Außenminister beim Parteitag der NRW-FDP in Hamm gesagt. „Unter dem Motto "Vom Ich zum Wir" verloren bis 1960 in der damaligen DDR 400 000 Bauern ihre Eigenständigkeit, 15 000 Bauern flohen in den Westen, 200 wählten den Freitod.“

SPD-Chef Sigmar Gabriel ist erbost: „Etwas Skandalöseres habe ich in den letzten Jahren nicht gehört.“ Die Egoisten der FDP würden am 22. September abgewählt. Westerwelle habe „Schiss“, dass die SPD den Nerv der Menschen treffe. Diese Worte sind natürlich auch nach innen gerichtet, um die Partei aufzurütteln, zu mobilisieren. Denn klar ist: Auch Sigmar Gabriel steht unter erheblichem Druck. Geht die Wahl in die Hose, kann er nach dem 22. September zur Disposition stehen - schließlich ist er der Erfinder des Kandidaten Steinbrück.

Führende Genossen sind sich in Augsburg sicher, dass dann Nordrhein-Westfalens Ministerpräsidentin Hannelore Kraft den Vorsitz übernehmen würde. Mit jeder Woche, in der die Umfragen schlecht bleiben, wächst die Nervosität - und damit die Gefahr, dass jemand die Nerven verliert. Gabriel bemüht ein Zitat von Bertolt Brecht, der in Augsburg geboren worden ist - es wird aber auch Rosa Luxemburg zugeordnet: „Wer nicht kämpft, hat schon verloren.“