Analyse: Wenn Union und SPD schreiten Seit' an Seit'

Berlin (dpa) - Mitten in der Nacht sieht es im hell erleuchteten Willy-Brandt-Haus ganz düster aus. Angela Merkel, Horst Seehofer und Sigmar Gabriel beraten unter sechs Augen, ob Schwarz-Rot zu retten ist.

Es geht um die Finanzen.

Die SPD will die geplanten Projekte, die auf einen Umfang von mehr als 50 Milliarden Euro beziffert werden, nicht bis zur Unkenntlichkeit zusammenstreichen lassen. Die Union verweigert Steuererhöhungen und will höchstens 16 Milliarden zusätzliche Ausgaben zubilligen. Da war ein Scheitern der Gespräche nah, berichtet ein Teilnehmer am Morgen. Doch dann die Zauberzahl: 23 Milliarden Euro werden veranschlagt. Der Knoten ist durchschlagen.

Mütterrente, Mindestlohn, Maut und Erleichterung bei der doppelten Staatsbürgerschaft waren vorher schon vereinbart worden. Der Mindestlohn habe davon die größten Probleme bereitet. „Es war sehr hart“, sagt ein Unionspolitiker. Dennoch CDU und CSU sind zufrieden. Ihre Wahlversprechen können sie halten. Auch die SPD verbucht Erfolge.

Sogar menschlich angenähert haben sich Politiker beider Seiten. Denn die Mitglieder der großen Runde mussten auf die Kompromisse der kleinen Runde warten. Um 05.30 Uhr wurden sie zur Entscheidung gebeten. Sie warteten seit 19.30 Uhr am Vorabend. Aber gemeinsames stundenlanges Herumsitzen verbindet, Fußball auch, Alkohol ebenso.

Viele fiebern mit Borussia Dortmund im Champions League-Spiel gegen den SSC Neapel. Der aus dem Rheinland stammende Bundestagsvizepräsident Peter Hintze (CDU) berichtet überrascht, wie nett er sich mit dem SPD-Linken und Nordlicht Ralf Stegner unterhalten habe (hätten beide „im Leben nicht gedacht“). „Für den menschlichen Zusammenhalt in einer großen Koalition ist das heute vielleicht der bedeutsamste Abend“, sagt er.

Die CSU-Politikerin Dorothee Bär informiert sich im SPD-Blatt „Vorwärts“ über ihren möglichen Koalitionspartner und stellt das Beweisfoto ins Internet. Ebenso wird ein Foto von ihr und den rheinland-pfälzischen Konkurrentinnen, Ministerpräsidentin Malu Dreyer und CDU-Vize Julia Klöckner, getwittert - die drei haben Spaß.

Schleswig-Holsteins SPD-Landeschef Stegner lässt um kurz nach vier wissen: „Dem Morgenrot entgegen...“. Worauf SPD-Vize Manuela Schwesig hoffnungsvoll fragt: „Schwarz Roter Sonnenaufgang?“

Am Mittwoch um 12.00 Uhr soll der Koalitionsvertrag präsentiert werden - allerdings unter Vorbehalt. Denn die SPD-Spitze lässt die 475 000 Parteimitglieder darüber abstimmen. Kritiker beklagen, dass ihnen mehr Macht über die Regierungsbildung gegeben werde als den Millionen Wählern am 22. September.

Jedenfalls dürften bis zum Ergebnis des Votums am 14. Dezember nun Debatten über das künftige Kabinett und den ausgehandelten Vertrag den politischen Alltag prägen. Und es wirkt nicht wie ein gutes Omen für den Verlauf einer vierjährigen großen Koalition, wenn sich Union und SPD schon im Vorfeld derart winden und zieren.

Namen für Ministerposten und der Kabinettszuschnitt sollen bis zum Abschluss des Entscheids offenbleiben - für die SPD als Beweis, dass es um Inhalte, nicht um Posten geht. Umgekehrt stellt sich die Frage, ob die SPD-Basis nicht eher zu begeistern wäre, wenn sie wüsste, welche Persönlichkeiten in welchen Ministerien eigene Ziele in einer Koalition durchsetzen können. Zugleich wird darauf verwiesen, dass durch das gründliche Aushandeln des Vertrages das Regieren leichter werden könnte. Ohnehin ist die Union auf die SPD-Bundesratsstimmen angewiesen. Die neun SPD-Ministerpräsidenten haben den Vertrag mit ausgehandelt und stehen nun beim „Verkaufen“ mit in der Pflicht.

Bei der SPD müssen nun die Vorbereitungen für den Versand des Vertrags an die Mitglieder anlaufen. Unisono loben ihre Verhandler etwa die Mindestlohn-Einführung von bundesweit 8,50 Euro ab 2015 als „großen Erfolg“. Es gibt eigene Akzente, aber einen Politikwechsel? Nun lautet die spannende Frage: Wird die gesamte SPD-Führung offensiv für den Vertrag werben? Denn scheitert das Votum, dann war das Ringen vergebliche Liebesmüh. Ein positives Signal ist sicher, dass Parteilinke wie Stegner noch im Morgengrauen die Annahme empfehlen.

Am Ende wird gesungen, die SPD-Leute empfangen Generalsekretärin Andrea Nahles und Parteichef Gabriel mit dem Arbeiterlied „Wann wir schreiten Seit' an Seit'.“ Dann wird der Koalitionsvertrag noch schnell von der müden großen 77er-Runde formell um 5.36 Uhr abgeknickt. Von der Stimmung ist dieser Morgen des Durchbruchs vielleicht tatsächlich der Auftakt für ein gemeinsames schwarz-rotes Schreiten in den nächsten vier Jahren.