Arzt an der syrischen Grenze: Die Flüchtlinge haben nichts mehr

Dohuk/Berlin (dpa) - Zehntausende Syrer fliehen vor dem Bürgerkrieg in ihrem Land, oft unter dramatischen Bedingungen.

Tankred Stöbe ist Vorstandsvorsitzender von Ärzte ohne Grenzen in Deutschland und gerade an der Grenze zum Irak als Arzt im Einsatz. Im Telefoninterview der Nachrichtenagentur dpa berichtet er von Menschen, die ums nackte Überleben kämpfen, aber auch von großer Hilfsbereitschaft.

Frage: Wie ist die Situation derzeit am Grenzübergang zum Nordirak?

Antwort: Donnerstag vor zwei Wochen hat die Grenze wieder aufgemacht, nachdem sie wochenlang geschlossen war. Seither sind etwa 45 000 syrische Flüchtlinge in den Norden Iraks gekommen. Wir sehen in den letzten Tagen 1000 bis 2000 Flüchtlinge täglich, die diese fünf Kilometer passieren. Das ist ein wüstenartiger, heißer, schattenloser Weg, bis zu über 50 Grad heiß. Darunter sind schwangere Frauen, junge Mütter, die gerade ein Kind zur Welt gebracht haben, oder auch chronisch Kranke, die keine Medikamente mehr haben und dringend versorgt werden müssen.

Frage: Sind auch Menschen dabei, die im Bürgerkrieg verletzt wurden - etwa durch Giftgas?

Antwort: Wir sehen sehr wenig Kriegsverletzte. In diesem nordöstlichen Teil Syriens gibt es zwar auch Kampfhandlungen, aber relativ wenige. Wichtiger ist vielleicht, dass diese Fluchtstrecke nur zu überwinden ist, wenn die Menschen körperlich fit sind. Nur Leute, die zu Fuß diese Strecke zurücklegen können, können überhaupt über diese Grenze fliehen. Innerhalb Syriens gibt es außerdem viele Straßensperren und Blockaden. Wir wissen daher nicht, ob das, was in einem Teil Syriens an schrecklichen Dingen passiert, dann auch gleich in erhöhten Flüchtlingszahlen hier mündet.

Frage: Können die Menschen denn an der Grenze bleiben?

Antwort: Wenn sie ein medizinisches Problem haben, fangen wir sie in unserem Behandlungszelt auf. Dann werden sie vom internationalen Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen als Flüchtlinge registriert. Sie werden dann mit Bussen in die nahen und weiter entfernt liegenden Flüchtlingslager gebracht. Das Problem ist, dass viele dieser Menschen auch Verwandte haben hier, aber sie müssen sich über diese Flüchtlingslager registrieren lassen. Das ist für viele schwierig, weil sie natürlich lieber in ihre Familien gehen würden.

Frage: Wie reagiert die einheimische Bevölkerung auf die Flüchtlinge?

Antwort: Da die überwiegend kurdischstämmigen Syrer in den kurdischstämmigen Teil des Iraks kommen, ist da eine große Solidarität, große Gastfreundschaft. In den großen Städten im Norden des Iraks macht die Zivilbevölkerung Sachspenden-Aktionen, bei denen viele Tonnen Hilfsgüter zusammenkommen.

Frage: Was brauchen die Flüchtlinge denn besonders dringend?

Antwort: Wenn die Menschen über die Grenzen kommen, haben sie oft nur eine kleine Plastiktüte, da haben sie die allernötigsten Überlebensdinge eingepackt. Sie haben sonst nichts mehr, keine Kleidungsstücke, keine Einrichtungsgegenstände. Sie kommen dann in diese Zeltstädte. Es sind hier immer noch 40 bis über 50 Grad, im Winter geht das dann in die Minustemperaturen. Das sind schon existenzielle Probleme.

Frage: Wünschen die Menschen sich, dass der Westen und seine Verbündeten eingreifen?

Antwort: Ich habe manche dieser Menschen danach gefragt. Die gucken mich dann mit ungläubigen Augen an und können das gar nicht einordnen, weil es wirklich darum geht, erst mal die eigene Haut zu retten. Die Menschen haben zum Teil über Wochen gar keine Möglichkeit mehr, internationale Entwicklungen durch die Presse zu verfolgen. Sie sind zurückgeworfen auf ihr nacktes Überleben.