Atomkonzerne sollen 23,34 Milliarden an Fonds überweisen
Berlin (dpa) - Durchbruch im Milliardenpoker um die Kosten des Atomausstiegs: Die vier Stromkonzerne Eon, RWE, Vattenfall und EnBW sollen bis zum Jahr 2022 rund 23,342 Milliarden Euro in einen staatlichen Fonds überweisen, der die Zwischen- und Endlagerung von Atommüll managen würde.
Im Gegenzug für die Zahlung eines darin enthaltenen Milliardenaufschlags könnten sich die Unternehmen damit von einer Haftung bis in alle Ewigkeit „freikaufen“ - dieses Risiko würde beim Steuerzahler liegen.
Umgekehrt könnte der Staat viel Geld für den Atomausstieg sichern, das bei möglichen Konzernpleiten verloren wäre. Auf diesen Vorschlag verständigte sich einstimmig die von Parteien, Gewerkschaften, Wirtschaft und Verbänden besetzte Regierungskommission.
Nach Angaben der Expertengruppe signalisierte Kanzleramtsminister Peter Altmaier (CDU) bereits, dass die Bundesregierung das Modell für einen „Entsorgungspakt“ zügig per Gesetz umsetzen will. Ein Entwurf könnte bis zum Sommer vorliegen und bis zum Frühjahr 2017 - und damit rechtzeitig vor der Bundestagswahl - ein wichtiges Kapitel des vor fünf Jahren beschlossenen Atomausstiegs geklärt sein.
Die Chefs der Expertengruppe, Ex-Umweltminister Jürgen Trittin (Grüne), der frühere brandenburgische Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD) und der einstige Hamburger CDU-Bürgermeister Ole von Beust sprachen von einem fairen Kompromiss für Steuerzahler und Konzerne. „Mit diesem Ergebnis kann die deutsche Gesellschaft leben“, meinte Ex-SPD-Chef Platzeck.
Auch Bundesumweltministerin Barbara Hendricks (SPD) zeigte sich zufrieden. Die Lösung entlasse die Atombetreiber nicht aus der Verantwortung, überfordere sie aber auch nicht. Stilllegung und Abriss der Kernkraftwerke müssen sie komplett bezahlen.
Die Atomkonzerne kritisierten die Kommissionsvorschläge. Sie würden mit einem hohen Risikoaufschlag von 6,142 Milliarden Euro „über ihre wirtschaftliche Leistungsfähigkeit hinaus“ belastet, teilten Eon, RWE, EnBW und Vattenfall mit. Zugleich bekannten sie sich aber zu ihren Verpflichtungen beim Atomausstieg und betonten, sie seien „weiterhin an einer Organisation und Finanzierung des Kernenergieausstiegs im Konsens interessiert“.
Der einflussreiche Industriepräsident Ulrich Grillo, der selbst in der Kommission sitzt und mit Ja stimmte, meinte: „Die Unternehmen bezahlen einen kräftigen Risikoaufschlag, der ihnen sehr viel abverlangt. Damit hat der Staat einen Puffer, falls die Kosten steigen sollten.“ In Berlin geht man davon aus, dass mit der 19:0-Entscheidung in der Kommission der gesellschaftliche Druck auf die Konzerne so groß ist, dass sie sich dem Finanzierungsmodell nicht verweigern können.
Die Reaktion an der Börse war jedenfalls eindeutig: Die Aktien von Eon und RWE legten kräftig zu. Analysten verwiesen darauf, dass es nun Klarheit über finanzielle Lasten und Risiken der „großen Vier“ beim Atomausstieg gebe.
Bei Umweltschützern gab es ein geteiltes Echo. Während der WWF lobte, dass mit dem Kompromiss die Steuerzahler „vor einem Totalausfall bewahrt“ würden, kritisierte Greenpeace einen „teuren Ablasshandel“: „Nach vielen fetten Jahren, in denen die AKW-Betreiber Traumrenditen und Milliardengewinnen eingefahren haben, entlässt die Bundesregierung sie jetzt für einen unverschämt niedrigen Preis aus der Haftung.“ Auch Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter monierte, die Atomkonzerne versuchten sich aus ihrer Verantwortung zu stehlen.
Die Regierungskommission sollte vorschlagen, wie die Rückstellungen der vier Konzerne von inzwischen gut 40 Milliarden Euro langfristig gesichert und Risiken für die Steuerzahler gemindert werden können. Die geschätzten Kosten für die Beseitigung aller Atom-Altlasten bis zum Jahr 2099 sind (zu heutigen Preisen) mit rund 48 Milliarden Euro höher.
Heftiger Streitpunkt in der Kommission war bis zuletzt die Höhe der Risikoprämie für die Konzerne, um Mehrkosten aufzufangen. Nach dpa-Informationen belief sich das letzte Angebot der Konzerne auf 22,8 Milliarden Euro - die Kommission verlangte 23,8 Milliarden und legte sich dann einstimmig auf 23,3 Milliarden Euro fest. Es habe „sehr aggressives Lobbying bis in die Nacht“ gegeben, berichtete Trittin. Platzeck ergänzte: „Wir mussten die Handys sehr weit weg legen, um schlafen zu können.“