„Bei Willi passiert uns nichts“ - Flüchtlinge in Paderborn

Paderborn (dpa) - Über Ägypten, Libyen und das Mittelmeer ist Familie Sbahi aus Syrien nach Deutschland geflüchtet. Jetzt sitzen sie - Vater, Mutter und vier Kinder - auf einem Ecksofa in Paderborn.

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Das Sofa steht in einer Wohnung, die eigentlich Willi Ernst gehört.

Aber der Paderborner findet: „Solange ich den Platz habe, werde ich ihn Flüchtlingen zur Verfügung stellen und an die Stadt vermieten.“

Seit Herbst lebt er daher unter einem Dach mit der sechsköpfigen Familie. „Nachbarschaftlich, wie in einer Art Hausgemeinschaft“, wie der 61-Jährige sagt. In bisher leerstehenden Räumen hat er auf 70 Quadratmetern eine Wohnung eingerichtet, darunter leben er und seine Frau. Das gemeinsame Treppenhaus führt direkt durch den Flur der beiden.

Willi Ernst ist ein Mensch, der nach Lösungen sucht. Das jedenfalls legt seine Biografie nahe: Tief in der alternativen Szene und Anti-Atomkraft-Bewegung verwurzelt, gründete er in den 1980er Jahren einen „Fuckelladen für Ökokrams“, wie er selbst sagt. Nachdem sich daraus ein erfolgreiches Unternehmen für Solartechnik entwickelt hatte, verkaufte er 2006 und gründete mit dem Erlös eine Stiftung.

Die verschreibt sich den Themen Gerechtigkeit und Ökologie, unterstützt Solarprojekte in Haiti und Nicaragua. „Meine Frau und ich wollten uns nicht reich machen, sondern etwas tun, was uns auf dem Herzen brennt.“

So auch jetzt: Das Wohnhaus gehört ebenfalls der Stiftung. Mitten in Paderborn und idyllisch am rauschenden Flüsschen Pader gelegen, will Ernst es eigentlich zu einem Gästehaus und Stiftungszentrum ausbauen. Doch nun haben sich die Pläne erst einmal geändert: Die Stiftung vermietete die Räume an die Stadt, um Flüchtlinge unterzubringen. Auch auf dem ehemaligen Firmengelände von Ernst sind Flüchtlinge untergebracht. 40 sind es bislang. Es könnten bald mehr werden, wenn die Stadt Container dort aufstellt.

„Wir mieten derzeit alles an, was wir können“, sagt Verena Kopp, Flüchtlingskoordinatorin im Sozialdezernat der Stadt. Dabei sei es gut, dass das es ein so hohes Level an Engagement in der Stadt gebe. Immer wieder seien auch Anfragen dabei, wie man mit Ehrenamt oder eigenen Räumen helfen könne. Angebote wie das von Ernst nehme man gerne an: „Die Stadt setzt auf möglichst kleine Einheiten. Die Richtschnur ist, nie mehr als 70 Leute.“ Die knapp 700 Asylbewerber in der westfälischen Stadt sind auf 33 Unterkünfte verteilt.

Vom großen Bemühen aller bei Verwaltung, Kirche und Initiativen erzählt auch Ernst. Er sieht angesichts stetig steigender Flüchtlingszahlen sogar das Potenzial einer neuen Bürgerschaftsbewegung quer durch alle Schichten: „Dieses Elend vor der Nase zu haben, kann dieser Gesellschaft gut tun, weil es die Leute in ganz neue Koalitionen bringt.“

Die Sbahis aus Syrien sind froh, dass sie ausgerechnet bei Ernst untergekommen sind. Sie haben vor zwei Jahren ihre Heimat Aleppo verlassen, nachdem eine Bombe ihr Haus zerstört hatte. Regelmäßig kochen sie für das Ernst-Ehepaar. Im Gegenzug gibt es Einladungen zu westfälischem Schmaus mit Grünkohl oder Kartoffelsalat.

Der Umgang ist herzlich. Das arabische Essen sei ja besser, scherzt Vater Hussam (55). Das deutsche Essen schmecke eigentlich nur deshalb gut, „weil es kommt ... hier“, sagt Hussam und hält seine Hand auf das Herz. Alle lachen, die beiden Schnauzbartträger des Hauses klopfen sich gegenseitig auf die Schulter. Die Verständigung klappt mit Händen und Füßen, auch Deutsch, das vor allem die Kinder immer besser verstehen, und einem wilden Spanisch-Portugiesisch-Mix.

Was die Sbahis hinter sich haben, lässt sich erahnen, als sie ein Video von der dreitägigen Überfahrt in einem 16 Meter langen Boot zeigen. Dicht gedrängt sitzt die Familie an Deck neben ausgemergelten Schwarzen. Der jüngsten Tochter Hanan steht die Erschöpfung ins Gesicht geschrieben. Viel schlimmer als das sei die Überquerung der libyschen Grenze gewesen, nachts, 16 Kilometer so schnell sie konnten, erzählt Mutter Raghad (42). Hussam sei fast erstickt vor Atemnot, deutet sie an. „Hier bei Willi passiert uns nichts mehr“, sagt der 17-Jährige Mahmoud.