EU-Gipfel: Ringen um Flüchtlingspakt mit Türkei
Brüssel (dpa) - Der von Deutschland verfochtene Flüchtlingspakt mit der Türkei hat beim Brüsseler EU-Gipfel zu Widerspruch und Streit geführt. So will Ungarn der Vereinbarung nur zustimmen, falls es keine Flüchtlinge aus dem Land aufnehmen muss.
EU-Parlamentspräsident Martin Schulz kritisierte in Brüssel nach einem Gespräch mit den EU-Staats- und Regierungschefs, rund 20 EU-Staaten verweigerten zur Zeit die Aufnahme von Flüchtlingen. „Es gibt hier Länder, die bewegen sich überhaupt nicht“, sagte der SPD-Politiker.
Mit dem beispiellosen Deal wollen die EU und Ankara die Flüchtlingsbewegung gemeinsam eindämmen und Flüchtlinge aus Griechenland in die Türkei zurückbringen.
Die Türkei könnte für ein Entgegenkommen unter anderem weitere drei Milliarden Euro zur Versorgung syrischer Flüchtlinge im Land sowie politische Zugeständnisse erhalten. Auch visafreies Reisen türkischer Bürger nach Europa soll rasch möglich werden - gerade dieser Schritt wird von vielen EU-Staaten skeptisch gesehen.
Geplant ist unter anderem, dass für jeden syrischen Flüchtling, den die Türkei zurücknimmt, ein anderer Syrer aus dem Land auf legalem Wege in die EU kommen kann. Dafür sollen zunächst 72 000 Plätze zur Verfügung gestellt werden, die auf bereits bestehenden Zusagen der Mitgliedstaaten für Umsiedlung und Verteilung von Flüchtlingen beruhen. Darüber wird in der EU schon länger gesprochen; laut Diplomaten ist offen, ob diese Zahl überhaupt erreicht wird.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zeigte sich zum Auftakt des zweitägigen Spitzentreffens vorsichtig optimistisch, fügte aber hinzu, dass es noch viel zu regeln gebe. „Ich glaube, dass es in der Möglichkeit liegt - ich bin bewusst vorsichtig (...) -, dass wir eine solche gemeinsame Position finden“, sagte sie. Laut deutschen Regierungskreisen besteht erstmals eine Chance, die Flüchtlingskrise auf europäischer Ebene zu lösen und Schlepper zu bekämpfen.
Druck bekam Merkel von CSU-Chef Horst Seehofer. Er forderte bei einem Scheitern des EU-Gipfels Konsequenzen für die Sicherung der deutschen Grenzen. „Ich bin für die europäische Lösung“, betonte der bayerische Ministerpräsident bei einem Redaktionsbesuch bei der Deutschen Presse-Agentur in Berlin. „Aber ich bin auch dafür, wenn es in Europa nicht gelingt, dann müssen wir Deutschen auch an unseren Grenzen die erforderlichen Maßnahmen treffen.“ Merkel lehnt ihrerseits Grenzschließungen ab.
Die EU-Chefs kamen zum zweiten Mal in diesem Monat zu Beratungen über die Flüchtlingskrise zusammen. Der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu wird am Freitag in der Gipfelrunde erwartet. Laut Diplomaten war ein Vortreffen von EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker und EU-Ratschef Donald Tusk mit Davutoglu noch in der Nacht durchaus möglich.
Die größten Streitpunkte beim Gipfel waren die Rechtmäßigkeit der Flüchtlingsvereinbarung mit der Türkei und das Zypernproblem. Die Regierung in Nikosia will der Eröffnung weiterer EU-Beitrittskapitel mit der Türkei nur zustimmen, wenn Ankara Zugeständnisse im seit Jahrzehnten schwelenden Zypernkonflikt macht. Die Insel ist seit 1974 in einen griechischen Südteil und einen international nicht anerkannten türkischen Nordteil gespalten.
Litauens Präsidentin Dalia Grybauskaite sagte zu den Einwänden vieler EU-Partner gegen den Türkei-Deal: „Ich verstehe und unterstütze einen Teil der Kritik, denn ich denke, dass das vorgeschlagene Paket sehr kompliziert ist, die Umsetzung wird sehr schwierig sein, und es ist am Rand internationalen Rechts.“
Der belgische Premier Charles Michel sagte: „Die Türkei verlangt wirklich eine Menge, und ich weigere mich, Verhandlungen zu akzeptieren, die manchmal einer Form von Erpressung ähneln.“
Vor dem Gipfel traf sich Merkel mit Frankreichs Staatschef François Hollande und dem griechischen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras.
In diesem Jahr sind bisher bereits rund 350 Menschen in der Meerenge zwischen Griechenland und der Türkei gestorben. Nach der Schließung der sogenannten Balkanroute für Flüchtlinge befinden sich zudem seit Wochen Zehntausende Flüchtlinge unter teilweise katastrophalen humanitären Zuständen in Griechenland.