Flucht aus Tokio? - Das gehört sich nicht
Tokio (dpa) - Der Alltag in Tokio und anderen japanischen Städten geht irgendwie weiter, trotz der drohenden atomaren Katastrophe. Obwohl viele Menschen verunsichert sind und Angst haben, flüchten sie nicht.
Dafür gibt es viele Gründe.
Der Mann von Akiyo Yamamoto geht nun jeden Morgen in Turnschuhen zur Arbeit. Denn er weiß nie genau, wie weit er zum nächsten Bahnhof laufen muss, von dem ein Zug losfährt. „Er macht sich Sorgen, dass er seinen Job verlieren könnte, wenn er nicht zur Arbeit geht“, sagt die 35-Jährige. Sie lebt mit ihrer Familie in Funabashi nahe Tokio. So wie ihr Mann versuchen viele Japaner gerade angestrengt, trotz täglich neuer Schreckensmeldungen und Engpässe ihren Alltag aufrechtzuerhalten.
„Im Supermarkt sind Eier, Reis, Brot und Milch knapp, es gibt oft keine Damenbinden und Windeln“, erzählt Akiyo Yamamoto. Auch Klopapier und Trockennudeln. „Man weiß nie, wann Nachschub kommt - und dann wird er sofort weggekauft.“ Benzin ist knapp und Züge fahren oft nicht, weil Strom gespart werden muss. Doch das, was am meisten an den Nerven zehrt, ist die atomare Bedrohung aus dem Norden.
„Ich habe Angst vor die Tür zu gehen, aber manchmal muss es sein, um Essen und Wasser zu kaufen“, sagt Yamamoto. Sie stammt aus Okinawa und denkt darüber nach, in ihre Heimat zurückzufliegen. Sie ist im siebten Monat schwanger und hat einen fünfjährigen Sohn. „Ich muss an meine Kinder denken.“ Ihr Mann käme aber nicht mit, wegen der Arbeit. Und auch ihre Freunde müsste sie zurücklassen. „Ich habe mich noch nicht entschieden.“
„Ich möchte sehr viel fernschauen, aber ich tue es nicht, weil meine Tochter davon Alpträume bekommt“, sagt Yachiyo Tsuboi aus Yokohama. Sie macht sich große Sorgen. An eine Flucht mit ihrer acht Jahre alten Tochter Arisa hat auch sie schon gedacht. „Aber hier ist unser Zuhause. Es ist nicht so einfach zu gehen.“ Freunde, Familie, Heim - das ist ein Grund, warum in Städten wie Tokio zahlreiche Menschen an ihrem vertrauten Leben festhalten und nicht in den Süden oder ganz ins Ausland abwandern. Dazu kommt das Gefühl, sich nicht wirklich beschweren zu dürfen, weil die Menschen an der von Erdbeben und Tsunami zerstörten Nordostküste viel schlechter dran sind. „Es ist hier ja noch nicht schlimm“, sagt Tsuboi.
Eine große Rolle spielen auch Stolz, Treue und Pflichtbewusstsein gegenüber der Firma, der Gesellschaft, dem Land. Eine junge Deutsch-Japanerin schreibt auf Facebook, wie sich die japanischen Mitarbeiter ihres deutschen Vaters gefühlt haben müssen, als er ihnen verkündete, nun auch ausreisen zu wollen. „"JETZT lässt du Japan im Stich?" Ich glaube, so haben sie sich gefühlt. Und jemand sagte zu ihm: "Ein Japaner würde sein Land nicht auf solche Art verlassen, selbst wenn er Expat wäre."“ Ihr Vater glaube nicht, dass er das verlorene Vertrauen zurückgewinnen könne.
Andere sehen aber auch weniger noble Motive. Eine Frau aus Osaka, die anonym bleiben möchte, meinte: „Das Gefühl ist, dass sich hier alle gegenseitig beobachten, so dass andere Leute nicht früher von der Titanic herunterkommen als man selbst. (...) Die Medien sagen, dass Japaner so diszipliniert sind, ruhigzubleiben, aber in Wahrheit sind sie extrem neidisch auf die Leute, die einen Weg nach draußen finden.“ Sie selbst habe ihre Firma gefragt, ob sie in ein Auslandsbüro versetzt werden könne. Die Dame von der Personalabteilung habe ihr Egoismus vorgeworfen. Und der ist in Japan alles andere als eine Tugend.
Und so bleiben die meisten Menschen in Japan in ihrem Alltag - und mit ihnen bleiben Angst und Unsicherheit. „Wir wollen korrekte Informationen: Wo ist es sicher, was sollen wir tun?“, meint Yamamoto. „Die Regierung sagt, dass es in Ordnung ist, aber wir glauben das nicht.“ Sie schreibe mit ihren Freunden ständig Mails und telefoniere. Und viele hätten die große Hoffnung: „Vielleicht ist es doch okay? Man kann die Strahlung ja nicht sehen.“