Analyse Merkels G20-Gipfel und ein Trümmerfeld
Hamburg (dpa) - Kevin könnte heulen. Genau hier und jetzt müsste seiner Ansicht nach die Kanzlerin stehen. Um 01.30 Uhr am Samstagmorgen im Hamburger Schanzenviertel, wo es brennt und knallt.
Militante Aktivisten verbarrikadieren sich in Häusern, die Polizei versucht über Stunden erfolglos, mit Wasserwerfern und Spezialkräften das Gewaltmonopol des Staates zu verteidigen. Nach beängstigenden Szenen, die in diesem Fokus wie Bürgerkrieg wirken, gewinnen die vielen Polizisten doch die Oberhand. Zurück bleiben Trümmer. Auf der Straße und politisch. Wird das Konsequenzen haben? Die G20-Gipfel-Gastgeberin Angela Merkel wird darauf antworten müssen.
Der 21-jährige Kevin hält Deutschland für eine großartige Demokratie und ist fassungslos, wie einige Hundert Vermummte Bilder von Asche und Anarchie erzeugen können, die um die Welt gehen. Merkel hätte vom Konzert in der prächtigen Elbphilharmonie direkt zum Ort des Ausnahmezustands fahren sollen, findet er. Dann hätte sie den krassen Gegensatz zu Beethovens 9. in diesem Moment erleben können. „Alle Menschen werden Brüder“, die Ode an die Freude, wirkt wie eine Farce. Allerdings nicht nur für das Schanzenviertel.
Bei den Staats- und Regierungschefs in den abgeriegelten Messehallen gleich um die Ecke ist auch nichts vom schönen Götterfunken zu spüren. Die Abschlusserklärung von Merkel und den Präsidenten der USA, Russlands, Chinas, der Türkei und den anderen fällt wachsweich aus. Beim Freihandel droht die Runde der Top-Wirtschaftsmächte wegen Trumps nationalistischen „America-First“-Kurses hinter längst erzielten Errungenschaften gegen Abschottungspolitik zurückzufallen. Mit Mühe kann ein Kompromiss gefunden werden. Es geht nicht um Fortschritt, sondern darum, den Rückschritt zu vermeiden.
Beim Klimaschutz sieht es schlimmer aus. Die Sherpas - die Experten der Spitzenpolitiker - legen Merkel und Trump, Russlands Staatschef Wladimir Putin, Chinas Präsident Xi Jinping, dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan und den anderen nach nächtelanger Verhandlung eine Formulierung vor, die eine einmütige Unterzeichnung des Gipfel-Kommuniqués möglich macht - die aber Differenzen aufzeigt. Washington unterstützt das Pariser Klimaschutzabkommen nicht mehr.
Das konkreteste Ergebnis ist wohl ein internationaler Fonds für Frauen in Entwicklungsländern. Rund 300 Millionen Euro werden für Kleinkredite bereitgestellt, mit denen Frauen ein Geschäft aufbauen und so der Armut entkommen sollen. Die von Trumps Tochter Ivanka unterstützte und von Merkel beförderte Initiative richtet sich nur an Frauen. Sie sollen unabhängig von Männern werden, denen die G20-Staaten weniger Seriosität im Umgang mit Geld zutrauen.
Vater Trump hat derweil einen Achtungserfolg mit Putin errungen. Sie treffen sich in Hamburg das allererste Mal und sprechen über zwei Stunden miteinander. Das weckt Hoffnungen auf eine Annäherung dieser beiden mächtigsten Männer der Welt. Nach dem Gespräch geben die USA bekannt, dass sie und Russland eine Waffenruhe für Syrien vereinbart haben. Diese wurde allerdings nicht in Hamburg, sondern zuvor in Jordanien ausgehandelt und gilt nur für ein Teilgebiet des Landes. Für dieses gab es obendrein schon eine Deeskalationsstrategie, die allerdings bisher nicht wirkte. Frieden in Syrien ist aber eine große Sehnsucht auf der Welt, so dass Trump und Putin kurzzeitig symbolhaft wie Friedenstäubchen über den G20-Gipfel flatterten.
So wird in der Gesamtsumme der Botschaften (die G20 sind kein Beschlussgremium) ein Desaster bei diesem ersten G20-Gipfel unter deutscher Präsidentschaft gerade noch so abgewendet. Die Bilder der Zerstörung durch Randalierer im ordnungsliebenden Deutschland aber bleiben. Vom G8-Gipfel in Heiligendamm in Mecklenburg-Vorpommern 2007 ist dieses Foto in Erinnerung: Die Staats- und Regierungschefs der großen Industriestaaten - damals noch mit Putin - im Strandkorb. Vom G7-Gipfel im bayerischen Elmau (ohne Putin) waren es die Aufnahme von Merkel und dem früheren US-Präsidenten Barack Obama mit weit ausgebreiteten Armen sowie die ganze Riege auf einer Gänseblümchen- Wiese vor den Alpen. Von Hamburg bleibt zunächst Chaos im Gedächtnis.
Bohrende Fragen werden gestellt, warum die Bundesregierung sich ausgerechnet für Hamburg entschieden hat, das nicht nur für seine Weltoffenheit, sondern auch für die linke autonome Szene bekannt ist. Warum überhaupt in einer Großstadt und nicht im Wald, wie etwa Kevin fordert. Zum Beispiel, weil die G20-Teilnehmer mit ihren großen Delegationen und die vielen Tausend Journalisten und Polizisten irgendwo untergebracht werden müssen. Außerdem darf sich der Staat nicht vorschreiben lassen, wohin er die Welt einlädt oder Flüchtlingsheime einrichtet, argumentieren Politiker.
Am 23. Juni hatte Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) noch gesagt: „Es wird Leute geben, die sich am 9. Juli wundern werden, dass der Gipfel schon vorbei ist.“ Hamburg richte ja auch jährlich den Hafengeburtstag aus. Jetzt dürfte sich Scholz wohl wundern, was auf ihn zurollen könnte. Mit illustrem Hafengeburtstag hat das nichts mehr zu tun.
Und die G20-Spitzen? Was sagen sie zu der Gewalt, die sich gegen den Gipfel mitten in der Stadt Bahn gebrochen hat? Aus Delegationskreisen verlautet, möglicherweise habe es vereinzelt Gespräche darüber gegeben. Es habe aber eine gute Atmosphäre geherrscht. Das Abendessen sei schön gewesen und erst recht das Konzert in der Elbphilharmonie. Das hört sich doch nach Abschottung an. Nichts hören, nichts sehen, was draußen vor sich geht.
Aber gleich, ob Merkel die Straßenschlacht im Schanzenviertel live erlebt hat oder sie sich später im Fernsehen anschaut. Die Kanzlerin wird sich positionieren müssen. Sie kann das nicht allein auf Scholz abschieben, weil es ein Gesamtkonzept gab. Und der SPD-Koalitionspartner kann Fehler nicht der Kanzlerin allein zuschieben - eben, weil es ein Gesamtkonzept gab. Im Wahlkampf aber dürfte das Thema Gewalt und Linksextremismus nun eine große Rolle spielen. Merkels Kalkül, der G20-Gipfel würde ihr wie Heiligendamm kurz nach ihrem Amtsantritt als Kanzlerin und Elmau vor zwei Jahren politisch ordentlich Rückenwind verschaffen, geht gut zwei Monate vor der Bundestagswahl vielleicht nicht auf.
Und die Staaten, die als nächstes den G20-Gipfel ausrichten werden - 2018 ist es Argentinien - könnten sich womöglich eher an der harten Linie gegen Demonstrationen wie in China 2016 und in der Türkei 2015 orientieren als an der freiheitsliebenden deutschen Kanzlerin. Auch das wäre keine Werbung für sie.