NSU-Nebenkläger: „Kratzen an der Mauer des Schweigens“

München (dpa) - Die Anwälte der Nebenklage sind mit hohen Ansprüchen in den NSU-Prozess gestartet. Vor dem 100. Prozesstag war klar: Besonders viel haben sie bislang nicht erreicht.

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Ob er an Wehrsportübungen teilgenommen habe? Der Zeuge fängt an zu kichern. „Nun, ich bin wirklich nicht der Sportlichste.“ André Kapke war eine zentrale Figur der Jenaer Neonazi-Szene. Der „Obernazi“, wie eine Zeugin sagte. Ein Anführer des „Thüringer Heimatschutzes“. Er war mit dem späteren NSU-Trio befreundet und hielt auch Kontakt, nachdem die drei abgetaucht waren.

Mittlerweile ist der massige Rechtsextremist 38 Jahre alt, sein Haar ist schütter, hinter beiden Ohren trägt er Hörgeräte. Im NSU-Prozess ist er Zeuge; soweit er die Gruppe beim Untertauchen unterstützt hat, wäre das verjährt. Vor Gericht, so scheint es, fühlt sich Kapke pudelwohl. Auf welchen Demonstrationen er gewesen sei, will der Vorsitzende Richter Manfred Götzl wissen. „Nichts für ungut“, sagt Kapke, „aber ich war schon auf so vielen Demonstrationen.“

Neben ihm sitzt sein Anwalt, mit polierter Glatze, genauso wuchtig wie Kapke. Beide haben beeindruckende Nackenfalten. Viel hat der Zeugenbeistand nicht zu tun - sein Mandant scheint zu wissen, wie weit er gehen kann. Ziemlich weit: „Ich kann mich nicht erinnern, dass wir dem Ausländer selbst die Schuld geben“, sagt Kapke. „Der kann ja nichts dafür, dass er da ist, das hat die Politik ermöglicht. Sie fangen ja nicht an, wenn Sie was gegen Unkraut machen, und zupfen da ein, zwei Blätter. Sie müssen schon an der Wurzel anfangen.“

Zwischendurch vergisst man als Zuschauer fast, dass hier über eine Mordserie verhandelt wird, dass zehn Menschen getötet wurden, weil sie nicht in das Weltbild der Täter passten. „Die Atmosphäre im Gerichtssaal ist sehr locker“, wundert sich der Istanbuler Jura-Professor Hakan Hakeri. Er kommt regelmäßig nach München, um den Prozess zu beobachten. Hakeri fällt auf, dass der Vorsitzende lacht, dass Wachtmeister und Angeklagte sich manchmal zulächeln. Der türkische Professor deutet das so: „Das heißt: Die Opfer sind Ausländer, die Täter sind ja nicht gefährlich für uns.“

Vor allem die Anwälte der Nebenklage arbeiten sich so mühevoll wie vergeblich an Kapke ab. Viele von ihnen sind mit großen Zielen in den Prozess gestartet. Sie wollen aufklären, welche Kontakte Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe in die rechtsextreme Szene hatten. Manche vermuten, dass es ein Netzwerk von Unterstützern gab. Die Opferanwälte haben sich vorbereitet. Sie haben recherchiert. Und sie versuchen, im Labor des Gerichtssaals der Wahrheit näher zu kommen.

Rechtsanwalt Alexander Hoffmann legt Kapke Fotos vor - vom „Fest der Völker“, einem Treffen von Rechtsextremisten aus ganz Europa, das Kapke mit organisiert hat. Kapkes Anwalt bezweifelt zunächst, dass Hoffmann legal an die Fotos gekommen ist. Dann beanstandet er, die Frage nach den internationalen Kontakten gehöre nicht zum Verfahrensgegenstand. Und als das alles nicht hilft, kann sich Kapke an keine Details erinnern. Immer wieder fragt Hoffmann nach Namen von rechtsextremen Bands, nach Verbindungen zum Netzwerk „Blood & Honour“. Immer wieder antwortet Kapke: „Weiß ich nicht.“

Ein anderer Nebenklage-Anwalt fragt nach einem Slogan der Rechtsextremisten: „Der Gott, der Eisen wachsen ließ, der wollte keine Knechte.“ Wie das zu interpretieren sei? Kapke lässt ihn abblitzen: „Nehmen Sie's mir nicht übel, aber auf so einen Quatsch habe ich keine Lust.“

„Manchmal verlässt man einen Prozess sehr unbefriedigt. Man weiß, ein Zeuge hat bewusst gelogen, und es gelingt nicht, das aufzuzeigen“, sagt Rechtsanwältin Doris Dierbach, die Angehörige des ermordeten Halit Yozgat vertritt. „Das erlebt man allerdings in diesem Prozess wie in anderen Verfahren auch.“

Zwei Verhandlungstage nach dem Auftritt Kapkes wird Juliane W. vernommen, eine weitere Jugendfreundin aus der Jenaer Neonazi-Szene. Sie hat Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe beim Untertauchen geholfen und Kleidung aus Zschäpes Wohnung geholt. Anfangs will sich sich nicht einmal sicher erinnern, dass sie überhaupt in der Wohnung war.

„Wie kamen Sie in die Wohnung?“, fragt Götzl.

„Meine Vermutung: Ich habe einen Schlüssel bekommen.“

„Von wem?“

„Das kann ich zum jetzigen Zeitpunkt nicht mehr sagen.“

„Was haben Sie mitgekommen?“

„Ich weiß es nicht, ich weiß es wirklich nicht.“

Später fällt ihr ein, dass sie die Sachen in eine blaue Mülltüte gesteckt hat. Und noch etwas später stellt sie alles wieder in Frage, auch die Aussagen, die sie vor dem Prozess bei der Polizei gemacht hatte. Das Polizeiprotokoll sei nicht vollständig, sagt sie. „Der Wortwechsel steht ja nicht drin, nur meine Aussage.“ Außerdem fühle sie sich in die Enge getrieben. „Es ist ein immenser Druck, hier zu sitzen und eine Zeugenaussage zu machen.“

Es mag Zufall sein, dass die rhetorisch nicht sonderlich versierte Verkäuferin exakt dieselben Argumente verwendet, mit der die Verteidiger von Ralf Wohlleben und Beate Zschäpe schon die eine oder andere Aussage angezweifelt haben. Klar ist: Je weniger von den Aussagen von Juliane W. übrig bleibt, desto besser vor allem für den mutmaßlichen NSU-Helfer und Waffenbeschaffer Wohlleben.

Als ihr die Fragen der Nebenklage-Anwälte zu weit in die Vergangenheit gehen, wendet sich Juliane W. an den Richter: „Am Ende fragt man mich noch, wie ich auf die Welt gekommen bin. Da bin ich zwar auch dabei gewesen, aber ich kann mich nicht erinnern.“

Auch die Drohung einer Nebenklage-Anwältin, Ordnungsgeld zu beantragen, hilft nicht weiter - nach einem rechtlichen Hinweis lässt sie es doch lieber sein. „Es bleibt eine gewisse Hilflosigkeit - man kann nicht immer Beugehaft androhen, denn dann ist die Vernehmung vorbei“, sagt der Münchner Rechtsanwalt Yavuz Narin. Er vertritt Hinterbliebene des ermordeten Theodoros Boulgarides. Trotzdem gibt er sich optimistisch: „Wir kratzen an der Mauer des Schweigens. Wenn wir diese Mauer noch lange genug bearbeiten, werden wir Erfolge erzielen können.“