Physiker: Japaner sollten „alles probieren, was geht“

Berlin (dpa) - Hubschrauber, Wasserwerfer und Reparaturen am Stromnetz - sind das im japanischen Atomkraftwerk Fukushima nur noch Verzweiflungstaten, die einen Super-GAU ohnehin nicht mehr aufhalten?

Ganz so düster sieht der österreichische Physiker Helmut Hirsch (61) die Lage nicht. Aber sie bleibe unkalkulierbar, sagte er der Nachrichtenagentur dpa. Hirsch hat bei Hannover ein Büro als wissenschaftlicher Berater für nukleare Sicherheit.

In einigen Reaktoren hat die Kernschmelze wahrscheinlich schon begonnen. Können Hubschrauber mit Wasserladungen oder Wasserwerfer am Boden dagegen überhaupt etwas ausrichten?

Hirsch: „So viel ich weiß, konzentrieren sich die Hubschrauber-Versuche vor allem auf die Brennelemente-Lagerbecken. Sie sind neben den Reaktorkernen die zweite große Risikoquelle. In den teilweise zerstörten Gebäuden liegen diese Becken oben und sind damit relativ gut zugänglich. Das ergibt zumindest theoretisch die Möglichkeit, sie mit Wasser zu kühlen. Hubschrauber haben für mich dabei wenig Sinn. Das Wasser zerstreut sich beim Abwerfen ja schon vorher durch den Wind. Und wegen der Strahlung kann man auch nicht wirklich nah heranfliegen. Wasserwerfer könnten grundsätzlich eher bessere Chancen haben, wenn man da einen gut gebündelten, starken Strahl hinbekommt. An die Reaktorkerne kommt man so aber nicht heran. Die liegen, obwohl bereits Lecks bei den Sicherheitshüllen aufgetreten sind, unzugänglich im Inneren der Gebäude.“

Nutzt es denn etwas, die ausgefallene Stromversorgung zu reparieren?

Hirsch: „Ich gehe davon aus, dass nur Teile der Gebäude zerstört sind. Bei der Reparatur der Stromkreisläufe geht es weniger um das planmäßige Wiederanfahren von Sicherheitssystemen. Man wird da viel improvisieren müssen. Techniker müssen wahrscheinlich Leitungen benutzen, die sonst für diese Art der Kühlung nicht vorgesehen sind und auch Pumpen, die sonst für andere Zwecke verwendet werden. Doch selbst wenn der Strom wieder fließt: Das nutzt nur etwas, wenn man mit ihm dann auch Wasser reinpumpen kann. Für den Notfall geht auch Meerwasser. Der Reaktor ist so oder so kaputt.“

Wenn die Kerne aber schon schmelzen - kann Kühlung dann überhaupt noch etwas ausrichten?

Hirsch: „Das kommt darauf an, wie weit die Kernschmelze fortgeschritten ist. Wenn ein Kern zusammenschmilzt, hat er keine klaren Strukturen aus Brennstäben und Abstandshaltern mehr, die kühlendes Wasser gut umfließen kann. Das ist dann mehr eine formlose, glühende Masse. Ich würde anstelle des Personals in Japan trotzdem versuchen, mit einer reparierten Stromversorgung den geschmolzenen Kern zu kühlen.“

Warum?

Hirsch: „Auch wenn das alles nach Verzweiflungstaten aussieht: Der schlimmste Fall tritt auf jeden Fall ein, wenn man nichts mehr tut. Wenn zum Beispiel das Personal wegen der Strahlung nicht mehr bleiben kann. Dann ist alles aus. Dann droht eine radioaktive Wolke über der 36-Millionen-Region Tokio.“

Wenn Strom und Pumpen wieder funktionieren sollten: Kann Kühlwasser die Kernschmelze in den Reaktoren ausbremsen?

Hirsch: „Es gibt da ein großes Problem. Das Wasser kühlt, das ist gut. Es kann aber auch aber zu Dampfexplosionen kommen, wenn Wasser und heiße Schmelze zusammentreffen. Beim heftigen Verdampfen kann das auch noch den Austritt von Radioaktivität befördern. Wenn man das riskiert, muss man den Zustand des Kerns sehr genau kennen. Man muss Analysen machen, um zu kalkulieren, ob die positive oder negative Wirkung überwiegen würde. Aber für genaue Analysen wird gar keine Zeit sein. Und wir wissen nicht, ob überhaupt irgendjemand den genauen Zustand der Reaktorkerne kennt.“

Also ein Himmelfahrtskommando?

Hirsch: „Ich kann verstehen, dass die Japaner alles probieren, was geht. Bei dieser Lage hat das immer noch eine gewisse Logik.“