Politologe Münkler: Aus Flüchtlingen „Deutsche machen“
Berlin (dpa) - Herfried Münkler, einer der einflussreichsten deutschen Politologen, äußert in einem Interview der Deutschen Presse-Agentur deutliche Vorstellungen davon, wie die Flüchtlinge in die deutsche Gesellschaft eingebunden werden müssen.
Frage: Zurzeit wird viel gesprochen über das „helle“ und das „dunkle Deutschland“. Da gibt's vermutlich noch was dazwischen, oder?
Antwort: Ja. Vermutlich ist das, was dazwischen ist, sogar das zahlenmäßig größte. Hell und dunkel bezeichnen zwei Extreme. Ich würde es allerdings nicht - und ich glaube, so hat es Joachim Gauck auch nicht gemeint - regionalisieren, also sagen: Der Osten ist das Dunkle, und der Westen ist das Helle. Allenfalls könnte man sagen, es gibt im Osten mehr Dunkles als im Westen. Aber wenn die Bezeichnung einen Sinn machen soll, dann im Hinblick auf die Angst, die Menschen ergreift, wenn sie an die Flüchtlinge denken: das Dunkle, während bei anderen Zuversicht überwiegt, dass man dieses Problem lösen kann: das Helle.
Frage: Darauf würden Sie letztlich auch die Gewalt zurückführen: auf Angst?
Antwort: Vielleicht jetzt nicht die Gewalt bei denen, die sie systematisch betreiben, aber bei den sogenannten besorgten Bürgern. Daran muss man eben auch arbeiten: dass diese Angst nicht die Mitte der Gesellschaft ergreift.
Frage: Wie kann man das machen?
Antwort: Man könnte sich zum Beispiel klarmachen, dass Migration in der Geschichte eigentlich ein Normalfall ist. Im 19. Jahrhundert sind um die 50 Millionen Europäer nach Amerika ausgewandert. Oder man denke an das Ruhrgebiet, das durch den Zuzug so vieler Menschen entstanden ist, die in nationaler Hinsicht zunächst Polen waren und Deutsche wurden.
Frage: Viele Menschen sagen aber: Es ist doch offenkundig, dass Deutschland nicht unbegrenzt Flüchtlinge aufnehmen kann. Deshalb ist es unverantwortlich von den Politikern, immer mehr von ihnen reinzulassen.
Antwort: Es ist ja nicht so, dass die Politiker sie reinlassen. Daran scheitern ja auch solche Politiker, die wesentlich härter vorgehen als unsere - in Mazedonien, in Ungarn. Die Vorstellung, man könne sich abschotten oder solche Ströme steuern, mögen zutreffen bei kleinen Zahlen, aber bei großen Zahlen nicht.
Frage: Wenn man die jetzige Situation vergleicht mit 1992/93: Damals gab es auch einen massiven Flüchtlingsstrom und dann die fremdenfeindlichen Anschläge mit mehreren Toten. Welche Unterschiede sehen Sie im Vergleich zu heute?
Antwort: Naja, jetzt brennt auch einiges, aber bisher werden systematisch leerstehende Einrichtungen in Brand gesteckt, während damals Angriffe eines Mobs gegen bewohnte Heime erfolgten. Es hat damals auch relativ lange gedauert, bis die Polizei das Problem in den Griff bekommen und die Gesellschaft darauf reagiert hat. Das geht jetzt schneller. Man hat auch ein bisschen gelernt. Bis auf die sächsische Polizei, muss man wohl sagen.
Frage: Damals gab es große Lichterketten. Die gibt es jetzt nicht, aber dafür leisten viele Bürger konkrete Hilfe für Flüchtlinge.
Antwort: Ja, aber es gibt auch jetzt etwas wesentlich Symbolisches: die Willkommenskultur, bei der es sich im Wesentlichen auch um eine Inszenierung von Symbolik handelt. Das ist vielleicht mit den Lichterketten vergleichbar. Es muss freilich eine Kultur des tatsächlichen Handelns und Helfens dahinterstehen, damit es nicht bei Symboliken bleibt. Aber die sind wichtig für die Selbst- und Fremdwahrnehmung.
Frage: Ist nicht auch ein Unterschied zu damals, dass die Akzeptanz der multikulturellen Gesellschaft seitdem stark zugenommen hat?
Antwort: Die hat zugenommen, das ist wohl so. Ich glaube aber, wenn es in diesem Jahr 800 000 Flüchtlinge werden und im nächsten Jahr auch wieder, dann werden wir nicht hinkommen mit dem Begriff multikulturell. Das ist ja ein Begriff, der in meiner hessischen Heimat, in Frankfurt, erfunden worden ist und der dort etwas Folkloristisches hat mit den Bankern auf der einen und den Gemüsehändlern auf der anderen Seite. Jetzt kommt es darauf an, aus den Menschen, die kommen und die bleiben wollen und dürfen, Deutsche zu machen.
Frage: Wie meinen Sie das?
Antwort: Wir müssen die Menschen in unsere Arbeitswelt eingliedern mit dem entsprechenden Arbeitsethos, und wir müssen sie zweitens in unsere politische Kultur eingliedern mit dem entsprechenden Toleranzethos. Und da hilft Multikulti, also ein farbenfroher anarchischer Teppich unterschiedlicher Kulturen, nicht weiter. Das ist ein Sonntagsbegriff. Nein, es geht darum, im Brechtschen Sinne „die Mühen der Ebene“ zu bewältigen, und das heißt zunächst einmal, ganz forciert, neben der Unterkunft, Deutschprogramme.
Frage: Multikulti schadet da eher?
Antwort: Multikulti ist ganz nett, aber entscheidend ist, dass diese Menschen in unsere Gesellschaft hineinpassen, damit dann auch die besorgten Bürger, von denen wir eingangs sprachen, sagen: Ja, das ist aber doch eine Bereicherung.
Frage: Noch ein anderer Aspekt: Anfang der 90er Jahre war eines der Motive für die Lichterketten die Befürchtung, dass die Deutschen im Ausland wieder alle als Nazis geschmäht werden könnten. Das ist jetzt anders, oder? Schließlich nimmt kein anderes Land 800 000 Flüchtlinge auf.
Antwort: Das ist der entscheidende Punkt. Die kommentierenden Nachbarn können sich diesmal nicht in vergleichbarer Weise „in den Laden legen“, wie sie es damals getan haben. Erstens weil sie in ganz anderer Weise rechtspopulistische Parteien haben und zweitens weil sie bei der Bearbeitung des Problems - einmal abgesehen von Österreich und Schweden - bisher nur minimale Leistungen erbracht haben.
ZUR PERSON: Herfried Münkler (64), geboren im hessischen Friedberg, ist einer der führenden deutschen Geisteswissenschaftler. Als Professor an der Humboldt-Universität in Berlin lehrt er Theorie der Politik. Sein heute bekanntestes Werk ist „Der Große Krieg. Die Welt 1914 bis 1918“.