Rätselraten um Gaddafis letzte Minuten
Tripolis (dpa) - Die letzen Stunden und Minuten von Libyens früherem Machthaber Muammar al-Gaddafi taugen schon am Tag nach seinem Tod zur Legendenbildung. Hockte er am Ende wirklich im Abwasserkanal?
Geriet er unter Feuer seiner eigenen Leute? Wurde er aus nächster Nähe erschossen?
„Dies ist der Platz der verfluchten Ratte Al-Gaddafi - Gott ist groß“, hat jemand über den Ausgang von zwei versandeten Betonrohren in Sirte gesprüht, in denen Gaddafi angeblich letzte Zuflucht fand. Dieses Bild, der Despot in der Kanalisation, würde prächtig in die Darstellung der Übergangsregierung passen - sie hat den Diktator aus Tripolis hinaus und bis in seinen Geburtsort Sirte gejagt. Gefleht haben soll er dort, als sie ihn aus seinem Versteck zerrten: „Nicht schießen, nicht schießen.“ Aber wer hat Gaddafi dann erschossen?
Libyens Ministerpräsident Mahmud Dschibril erklärte das in der Nacht so: Zuerst hätten die Milizen Gaddafi in Sirte gefangen genommen - lebendig. Dann hätten sie ihn auf einen Pritschenwagen gepackt und seien mit ihm Richtung Misrata gefahren, an die Küste. Auf dem Weg aber sei der Transport von Anhängern des langjährigen Diktators beschossen worden - Gaddafi sei schwer verletzt worden. So schwer, dass er kurz vor dem Krankenhaus von Misrata verblutete, erklärte Dschibril laut einem Bericht des Senders CNN.
Zweifel an dieser Version hat unter anderem die „New York Times“. Genährt werden diese Zweifel durch ein wackliges Video des Fernsehsenders Al-Arabija: Dort ist Gaddafi nach seiner Festnahme in Sirte im blutgetränktem Hemd zu sehen - wankend, aber noch auf eigenen Beinen. Er scheint zu sprechen, seine rechte Hand zu bewegen. Auf späteren Bildern ist Gaddafi tot. Am Kopf ist mindestens eine Schusswunde zu sehen. Haben seine Anhänger bei dem Überfall so genau gezielt?
Wohl nicht, vermutet Al-Arabija am Freitag und liefert eine brutale, aber plausibel klingende Erklärung - samt Quelle: Der ehemalige Diktator wurde nach seiner Festnahme mit voller Absicht getötet. Zu dem Schluss komme zumindest ein libyscher Arzt, der Gaddafis Leiche in Misrata obduzierte. Seine These: Gaddafi wurde aus kurzer Distanz in den Kopf und in den Bauch geschossen.
Die Kugeln könnten nach Angaben des Senders Al-Dschasira sogar von seinen Getreuen selbst abgefeuert worden sein. „Einer von Muammar Gaddafis Leibwächtern hat ihm in die Brust geschossen“, zitiert der Sender auf seiner Internetseite einen Kämpfer. Andere Soldaten sprechen davon, dass der ehemalige Diktator schon verwundet war, als er aus dem Kanalrohr gezogen wurde. Dorthin soll er geflüchtet sein, nachdem sein Konvoi auf der Flucht aus Sirte von NATO-Truppen aus der Luft beschossen worden sein soll.
Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International fordert, die Todesumstände genau zu untersuchen. Die neue Regierung müsse mit Gaddafis „Kultur des Missbrauchs“ vollständig brechen und Menschenrechtsreformen durchsetzen.
Nach seinem Tod soll es um Gaddafi eine regelrechte Leichenschau gegeben haben. Die „New York Times“ berichtet, dass sein Leichnam in Misrata von Hunderten Menschen angeschaut wurde. Es gibt Bilder, auf denen der Leichnam umringt ist von Menschen, die ihn mit ihren Handys fotografieren. Feiernde Soldaten der Übergangsregierung gaben die Trophäen der Festnahme von Hand zu Hand weiter: Gaddafis goldene Pistole, sein Satellitentelefon, seinen braunen Schal und einen schwarzen Stiefel.