Regierung beschließt Atomausstieg und Energiewende
Berlin (dpa) - Atomausstieg bis 2022, massiver Ökostrom-Ausbau und mehr Geld für Hausbesitzer zum Energiesparen: Die Bundesregierung hat ihre Energiewende auf den Weg gebracht. Das Kabinett beschloss dazu am Montag in einer Sondersitzung ein umfangreiches Gesetzespaket.
„Das ist gesellschaftliches Pionierprojekt und ein Meilenstein“, sagte Umweltminister Norbert Röttgen (CDU). Das Kampfthema Atom werde endgültig befriedet. Damit steigen die Chancen, dass SPD und Grüne die Fukushima-Kehrtwende von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) mittragen.
Bis 2022 sollen schrittweise die restlichen Atomkraftwerke vom Netz gehen, acht Meiler werden sofort stillgelegt - ein AKW könnte aber als „kalte Reserve“ für Stromengpässe im Winter bis 2013 in Bereitschaft gehalten werden. Ob ein solches „Stand By“-AKW nötig ist, soll die Bundesnetzagentur bis September entscheiden.
Röttgen sagte, die angepeilte Verdoppelung des Ökostrom-Anteils auf 35 Prozent bis 2020 könne auch übertroffen werden. Die Opposition fordert, dass in zehn Jahren schon 40 Prozent Strom aus Wind, Sonne, Wasser und Biomasse kommen.
Mit Blick auf die Atommüll-Endlagerung sprach Röttgen von einer fundamentalen „Änderung der jahrzehntelangen Kampflage“, weil bundesweit nach Alternativen zum Salzstock Gorleben gesucht werden soll.
Knackpunkt der schwarz-gelben Energiewende ist der Netzausbau. Die Planungs- und Bauzeit für neue Stromautobahnen soll nach dem Willen von Wirtschaftsminister Philipp Rösler (FDP) von 10 auf 4 Jahre reduziert werden. Die Verbraucher müssten sich auf moderat höhere Strompreise einstellen. Rösler sprach von 35 bis 40 Euro im Jahr für einen vierköpfigen Haushalt.
Umgekehrt will die Regierung Millionen Haus- und Wohnungsbesitzer bei der Öko-Sanierung stärker unterstützen. Ab 2012 soll es dafür jährlich 1,5 Milliarden Euro geben. Zudem können zehn Prozent der Kosten für die Sanierung von der Steuer abgesetzt werden, ein Volumen von weiteren 1,5 Milliarden. „70 Prozent des Primärenergiebedarfs fallen an im Bereich des Verkehrs und bei Gebäuden“, sagte Bauminister Peter Ramsauer (CSU). Zur Förderung der Windkraft auf See startete ein Fünf-Milliarden-Programm der staatlichen KfW-Bank.
Die Unionsfraktion billigte bei immerhin acht Nein-Stimmen und acht Enthaltungen das Atompaket. Fraktionschef Volker Kauder (CDU) sagte, es habe Kritik unter anderem in der Endlagerfrage gegeben. Er gehe aber davon aus, „dass wir in der Koalition eine doch klare Zustimmung zu dem Gesetz erreichen werden“. Auch die FDP- Abgeordneten trugen das Projekt mit.
In der SPD-Bundestagsfraktion zeichnete sich am Abend breite Zustimmung zum Atomgesetz ab. Offen blieb zunächst aber, ob die Sozialdemokraten auch die übrigen Gesetze für die geplante Energiewende mittragen wollen. Bereits bis 8. Juli soll das geänderte Atomgesetz Bundestag und Bundesrat passiert haben, um rasch in Kraft treten zu können.
Die Grünen warten noch ab und wollen einen Sonderparteitag am 25. Juni über einen Konsens mit Merkel entscheiden lassen. Die Linke forderte, den Atomausstieg im Grundgesetz zu verankern. Umweltverbände kritisieren, der Ausstieg sei nicht ambitioniert genug. Greenpeace fordert ihn bis 2015.
FDP-Fraktionschef Rainer Brüderle attackierte die Grünen: „Ich fordere die Grünen auf, mit ihrem Eiertanz aufzuhören.“ Die „Dagegen- Partei“ müsse aus ihrem Schmollwinkel heraus und die Pläne für neue Netze und Kraftwerke unterstützen.
Die neun verbleibenden Meiler sollen nach folgendem Zeitplan bis Ende 2022 vom Netz gehen: 2015 Grafenrheinfeld (Bayern), 2017 Gundremmingen B (Bayern) und 2019 Philippsburg II (Baden-Württemberg), 2021 Grohnde (Niedersachsen), Brokdorf (Schleswig-Holstein) und Gundremmingen C (Bayern). Als letzte Kernkraftwerke werden 2022 Isar II (Bayern), Neckarwestheim II (Baden-Württemberg) und Emsland (Niedersachsen) abgeschaltet.
Die Energiekonzerne zweifeln, ob die geplante stufenweise Abschaltung der neun jüngeren Meiler juristisch wasserdicht ist. Durch die Verkürzung der Laufzeiten werde „ein Verstromen der Altmengen beinahe unmöglich“, erfuhr die dpa aus dem Umfeld eines Energiekonzerns. Dürfen sie vertraglich zugesicherte Strommengen nicht mehr produzieren, könnte dies als Eingriff in Eigentumsrechte der Unternehmen gewertet werden - dem Staat könnten hohe Entschädigungsforderungen drohen. Die Regierung hält den Atomausstieg aber für rechtssicher.
Schleswig-Holsteins Wirtschaftsminister Jost de Jager (CDU) sieht mit den Berliner Kabinettsbeschlüssen die Weichen für einen schnellen Ausbau des Stromnetzes in Deutschland gestellt. Er gehe davon aus, dass die Beschlüsse der Bundesregierung im Wesentlichen - einzelne Änderungen vorbehalten - von den Ländern mitgetragen werden, sagte de Jager der Nachrichtenagentur dpa in Plön (Schleswig-Holstein) am Rande der Wirtschaftsministerkonferenz der Länder, deren Vorsitzender er ist. Nach seiner Darstellung ist das Kompetenzgerangel von Bund und Ländern gelöst.