Trügerische Normalität: „Irene“ hinterlässt Tote und Fluten

New York (dpa) - Erleichterung statt Panik, New York hat den Sturm unbeschadet überstanden. Doch zur Bilanz zählt auch: Viele Menschen sind tot, Millionen ohne Strom und große Gebiete überflutet. In den USA geht das Aufräumen los - und das Fragenstellen.

Schon einige Stunden nach „Irene“ scheint es in New York, als sei nichts gewesen: Junge Frauen joggen am Battery Park vorbei. Kleine Kinder planschen in Gummistiefeln durch die Pfützen. Männer flanieren in T-Shirt und kurzen Hosen durch den Central Park. New York hat „Irene“ überstanden - und es war gar nicht so schlimm wie befürchtet. Doch ganz so harmlos, wie jetzt viele sagen, war es nicht an der Ostküste: Millionen waren ohne Strom, weite Gebiete wurden überschwemmt und etwa 20 Menschen starben. Nun haben in den USA Aufräumen und Analyse begonnen.

Die Warnung vor vorschneller Erleichterung kam von ganz oben. „Das ist noch nicht vorbei“, sagte US-Präsident Barack Obama am Sonntagabend. Da hatte „Irene“ New York längst passiert, verwüstete aber gerade den Neuengland-Staat Vermont. „Ich will unterstreichen, dass die Auswirkungen des Sturms noch für einige Zeit zu spüren sein werden. Die Erholung kann Wochen dauern“, sagte Obama.

Die ganze USA, ja die ganze Welt hatte auf New York geschaut. Die Millionenmetropole ist Katastrophen gewöhnt - aber keine tropischen Wirbelstürme, die sich höchst selten so weit in den Norden verirren. Alle großen Sender berichteten am Samstagabend von der Wetterfront und zeigten statt Filmen oder Shows im Wasser stehende Reporter. Und als es in New York bei heftigem Regen und kräftigem Wind blieb, atmeten alle auf, in New York, den USA und der Welt. Aber die Situation in der Metropole war nur die halbe Wahrheit.

Denn bei aller Erleichterung übersehen viele die Bilanz von „Irene“, all die Menschen, die ihr Leben verloren. Die meisten wurden von Bäumen oder Trümmern erschlagen, etwa ein elfjähriger Junge in seinem Zimmer oder ein Mann, der sein Vieh nicht unversorgt lassen wollte. Andere starben in ihren Autos oder ertranken in den Fluten. „Irene“ hat in fast einem Dutzend Staaten zu Überflutungen geführt. Das Wasser kam an der Küste New Jerseys ebenso wie in den Straßen Manhattans oder den Bergen Vermonts. Und auf den kleinen Inseln vor der Küste sitzen Menschen fest, von North Carolina bis hoch nach Neuengland. Auf Hatteras Island, einem Inselchen, dass so schmal ist, dass es auf der Karte nur wie ein Strich erscheint, waren es allein 2500.

Oft sind es Menschen, die sich der Evakuierung widersetzt hatten. An der ganzen Ostküste gab es Tausende, die die Warnungen der Behörden nicht ernst nahmen. „Ich bin 76“, sagte einer auf Long Island dem New Yorker Sender NY1. „Ich bin ein alter Mann und habe schon viele Stürme gesehen. Der ist anders. Aber auch den werden wir überleben.“ Er hat ihn überlebt, aber auf seiner Insel hatte in den Stunden nach „Irene“ kaum einer Strom. Millionen waren ohne Licht, ohne Klimaanlage und ohne Fernseher. Und auch ohne Pumpe, um vollgelaufene Keller zu leeren und ohne Generator, um Trinkwasser in die Leitungen zu drücken. Hunderte Teams arbeiteten daran, die Kabel wieder zu flicken. Aber für Hunderttausende wird „Irene“ wohl noch eine ganze Weile nachwirken.

Dennoch klingt in den Zeitungskommentaren die Frage durch, ob die Behörden mit ihren Warnungen, der Sperrung des gesamten Nahverkehrs, dem Evakuierungsbefehl für Millionen Menschen nicht übertrieben haben. Vor acht Monaten war New Yorks Bürgermeister Michael Bloomberg noch kritisiert worden, er habe einen Schneesturm, der New York Weihnachten komplett lahmlegte, unterschätzt. Jetzt zeigte der Manager Tatkraft. Und auch Präsident Obama lobte ausdrücklich das Vorgehen der Behörden, von den Evakuierungen vor dem Sturm bis zu den Aufräumarbeiten danach: „Dieser beispielhafte Einsatz zeigt, wie gut die Regierung auf allen Ebenen auf die Bedürfnisse der Bevölkerung eingehen kann.“

Egal, bei den New Yorkern herrschte Erleichterung. Und bald auch Normalität. Es dauerte einige Stunden, bis die U-Bahnen wieder fuhren, und auch der Flugverkehr sollte erst am Montag wieder anlaufen. Aber die Börse an der Wall Street sollte dann genauso wieder geöffnet sein wie die Casinos in Atlantic City (New Jersey). Mehr Normalität geht nicht.