Brüssel und Berlin streiten erneut um deutsche Exportstärke
Brüssel/Berlin (dpa) - Der Streit zwischen Brüssel und Berlin um die riesigen deutschen Exportüberschüsse geht in eine neue Runde. Die EU-Kommission bescheinigte Deutschland am Mittwoch, dass der hohe Überschuss Risiken für die europäische Wirtschaft berge.
Die EU-Kommission fordert von der großen Koalition aus Union und SPD, die Nachfrage im Inland anzukurbeln und das mittelfristige Wachstum zu stärken. „Der Handlungsbedarf (...) ist erheblich angesichts der Größe der deutschen Wirtschaft“, schreibt die EU-Behörde als Ergebnis einer monatelangen Analyse. Sanktionen drohen Berlin aber nicht, da Brüssel bisher kein Verfahren eröffnet hat und Überschussländer laut EU-Diplomaten keine Strafen befürchten müssen.
Das Thema sorgt seit langem für Zündstoff zwischen Brüssel und Berlin. Im Gegensatz zur EU-Kommission sieht die Bundesregierung in den deutschen Exportüberschüssen kein Problem für die Euro-Zone. Es gebe keine Anzeichen dafür, dass diese den anderen Euro-Ländern schaden würden, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert in Berlin. Der Forderung nach mehr Investitionen komme die Koalition mit ihren Maßnahmen ohnehin nach. Seibert wies Darstellungen zurück, die Bundesregierung habe ihre Position in dem Streit geändert: „Es gibt keine grundsätzlich andere Haltung zu diesem Thema.“
Nach den Worten von Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) stellt sich die Bundesregierung der Debatte mit „viel Selbstbewusstsein und Gelassenheit“. Die Überprüfung durch die EU-Kommission sei völlig in Ordnung, sagte Schäuble nach einem Treffen mit seinem österreichischen Amtskollegen Michael Spindelegger. Der deutsche Überschuss sei nicht durch Manipulation entstanden, sondern sei auch Ausdruck der Wettbewerbsfähigkeit, sagte Schäuble weiter. Auch der Internationale Währungsfonds (IWF) habe erklärt, der deutsche Leistungsbilanzüberschuss sei durch Strukturdefizite in anderen Ländern zu erklären und nicht durch Ursachen in Deutschland.
Das Wirtschaftsministerium verwies darauf, dass die Koalition staatliche Investitionen und binnenwirtschaftliche Wachstumskräfte stärke. Das Wachstum werde vor allem von der Binnenwirtschaft gestützt. In einem internen Papier räumt das Ministerium ein, dass „exzessive und dauerhafte Ungleichgewichte“ für die Stabilität der Eurozone schädlich seien. Zugleich wird aber betont: „Vom Erfolg deutscher Unternehmen auf den Weltmärkten profitieren auch unsere europäischen Handelspartner.“
EU-Wirtschaftskommissar Olli Rehn wies Vorwürfe zurück, er stelle das deutsche Exportmodell infrage. „Niemand möchte Deutschland dafür kritisieren, dass es nach außen hin im Export gut da steht“, sagte Rehn. Er wünsche sich, dass jedes EU-Land bei Produktion und Ausfuhren so stark wie Deutschland sei. Der Überschuss sei ein Zeichen für die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands: „Das ist natürlich gut.“ Allerdings werde ein großer Anteil des deutschen Einkommens im Ausland investiert - während im Inland private und öffentliche Investitionen niedrig seien: „Deutschland tut gut daran, die Binneninvestitionen und die Binnennachfrage zu stärken.“
Als konkrete Maßnahmen empfahl der EU-Kommissar Berlin, etwa den Dienstleistungssektor für den Wettbewerb zu öffnen, Investitionen im Inland zu unterstützen und Ganztagsschulen und Kindertagesstätten auszubauen, um die Erwerbstätigkeit von Frauen zu verbessern. Solche Maßnahmen würden „das zukünftige Wachstum in Deutschland unterstützen und bis zu einem gewissen Grad auch anderswo in Europa.“
Die verstärkte Wirtschaftsüberwachung wurde wegen der Euroschuldenkrise eingeführt. Brüssel will verhindern, dass die Volkswirtschaften im gemeinsamen Währungsgebiet auseinanderdriften. Vor allem der Süden Europas ist zuletzt zurückgefallen - auch weil Euroländer wie etwa Italien nicht mehr wie früher ihre nationale Währung abwerten können, um ihre Waren im Ausland billiger anzubieten.
Ein Überschuss bedeutet, dass mehr produziert als verbraucht wird. Es heißt aber auch, dass im Inland mehr gespart als investiert wird. Je höher die Überschüsse in einem Land wie Deutschland ausfallen, desto höher sind zwangsläufig die Defizite bei Handelspartnern - was in Zeiten der Euro-Schuldenkrise für viele Debatten sorgt.
Der europäische Referenzwert für den Leistungsbilanzüberschuss beträgt 6 Prozent der Wirtschaftsleistung - herangezogen wird ein Mittelwert für drei Jahre. Deutschland lag mit mehr als sieben Prozent zuletzt erneut über dieser Warnschwelle.
Insgesamt sieht die EU-Kommission bei 16 Staaten Anzeichen für wirtschaftliche Ungleichgewichte; bei 14 Ländern hält sie diese für bestätigt. Dazu zählen weitere Schwergewichte des Euroraums wie Frankreich, Italien und Spanien. Brüssel fordert von Frankreich und Italien Strukturreformen und den Abbau der Schulden. Spanien müsse Reformen umsetzen und soziale Themen angehen. „Wir hoffen auf eine entschiedene Antwort der Mitgliedsstaaten“, sagte EU-Kommissar Rehn. Im Juni will Brüssel über weitere Schritte - etwa Sanktionen - entscheiden.