Die Beweiskraft eines digitalen Dokuments
Im simulierten Prozess wird Wert gescannter Kopien geklärt.
Nürnberg/Kassel. Es ist eine beeindruckende Zahl, die das Statistische Bundesamt ermittelt hat: Rund 35 Milliarden Rechnungen verschicken deutsche Unternehmen jedes Jahr. Nach dem Gesetz müssen Steuerunterlagen zehn Jahre lang aufbewahrt werden. Um nicht im Papier zu versinken, werden viele Rechnungen aber eingescannt und nur noch elektronisch archiviert.
Diese Dateien könnten allerdings eine tickende Zeitbombe sein: „Bis heute ist völlig unklar, welche Beweiskraft solche gescannten Dokumente haben, wenn die Originale nach dem Scanvorgang weggeworfen wurden“, sagt der Rechtswissenschaftler Alexander Roßnagel von der Universität Kassel. Es gebe nämlich noch kein einziges Urteil, betont der Leiter der dortigen Projektgruppe „Verfassungsverträgliche Technikgestaltung“.
Genau das will der Professor ändern: In Nürnberg wird es Ende Oktober gleich 14 Gerichtsverhandlungen um eingescannte Steuerdokumente geben. Roßnagel hat sie zusammen mit dem Nürnberger IT-Dienstleister Datev losgetreten. Es sind simulierte Verhandlungen, aber mit echten Berufsrichtern und Rechtsanwälten. Der gefragte Wirtschaftsexperte und das Softwarehaus wollen auf diese Weise herausfinden, wie die Justiz eingescannte Dokumente beurteilt.
„Wenn wir warten, bis es irgendwann einmal zum ersten Rechtsstreit kommt, ist es vielleicht zu spät“, warnt Roßnagel. Denn das „ersetzende Scannen“, wie es heißt, wenn das Original nach der Umwandlung in eine Datei vernichtet wird, ist auf dem Vormarsch. Nach neuen Schätzungen der Statistiker landen mittlerweile pro Jahr etwa 26 Milliarden Rechnungen auf Festplatten — und das Original oft im Reißwolf.
Wie bei einem echten Gerichtsverfahren findet derzeit für die Nürnberger Studie die schriftliche Auseinandersetzung statt. Der Gegner ist in sieben Fällen das Finanzamt. So streitet sich etwa ein Unternehmer mit der Behörde über eine Dienstreise. Das Finanzamt vermutet, dass das Datum der Rechnung während des Scanvorgangs manipuliert wurde, die Reise eigentlich schon vor Jahren stattgefunden hat. Das Original hat der Firmenchef nicht mehr.
Sieben weitere Verfahren sind Zivilklagen. Dabei geht es in erster Linie um abweichende Versionen von Verträgen. Die Richter müssen entscheiden, ob das eingescannte Dokument oder die Papierversion mehr Beweiskraft hat.