Autotest McLaren 720S: Rushhour auf der Rennstrecke
Berlin (dpa-infocom) - Schnellfahrer aufgepasst: In England läuft sich ein neuer Sprinter warm. Denn sieben Jahre nachdem McLaren von der Rundstrecke auf die Straße zurückgekehrt ist, bereiten die Briten den Start für die zweite Generation ihrer zivilen Rennwagen vor.
Die Offensive beginnt in der mittleren Baureihe, die McLaren „Super Series“ nennt und gegen Konkurrenten wie den Ferrari 488 GTB oder den Lamborghini Huracan positioniert. Dort beerbt in diesem Sommer der 720S den bisherigen 650S. Der macht zu Preisen ab 247 350 Euro einen viel größeren Sprung, als es das neue Typenkürzel vermuten lässt.
Mit mehr Hubraum und mit zweiter Haut
Die Modifikationen am Motor sind noch das geringste - selbst wenn der im Nacken der Insassen montierte V8-Turbo von 3,8 auf 4,0 Liter aufgebohrt wurde, die Leistung von 478 kW/650 PS auf 529 kW/720 PS steigt und die Drehmomentkurve jetzt erst bei 770 Newtonmeter gipfelt.
Viel wichtiger ist die neue Karosserie. Denn die ist nicht nur gewohnt spektakulär gezeichnet. Diese fängt mit Details wie der „zweiten Haut“ für die Luftführung oder den Flügeltüren für den ebenso aufmerksamkeitserregenden wie bequemen Zustieg alle Blicke. Die Karosserie ist deutlich geräumiger und dank der gestiegenen Steifigkeit so filigran, dass sie mit sehr viel dünneren Säulen auskommt.
In der Kanzel eines Kampfjets
Das Ergebnis ist ein ungewohnt luftiges Raumgefühl in einer überraschend luxuriösen Kabine und vor allem ein Ausblick, wie ihn kein Coupé in dieser Liga bietet. Wo man sich in anderen Supersportwagen wie im Schützenpanzer fühlt und die Welt nur noch durch Schießscharten wahrnimmt, wähnt man sich im 720S wie in der Kanzel eines Kampfjets.
Man sieht die Welt da draußen wie im 360-Grad-Kino und behält in jeder Situation den perfekten Überblick - egal, ob mal wieder Rushhour in der Boxengasse ist oder man sich im Berufsverkehr durch die Stadt quält.
Der Spaß beginnt, wo die Stadt endet
Zwar betonen die Briten nicht nur mit diesen besseren Aussichten ein neues Maß an Alltagstauglichkeit. Sie bieten auch mehr Stauraum denn je. Wer die beiden Drehschalter für Fahrwerk und Antrieb ganz nach links in die Komfortstellung dreht, schwimmt tatsächlich ganz lässig durch die Stadt.
Doch natürlich ist auch der 720S im Grunde seiner Karbonkarosse ein Rennwagen, der nur widerwillig ins Korsett der Straßenzulassung gezwängt wurde. Deshalb mag er sich zwar souveräner denn je durch die Stadt kämpfen. Aber erst vor ihren Toren blüht er so richtig auf: Auf der Autobahn genießt er den Freilauf bis zu einem Spitzentempo von 341 km/h, auf der Landstraße lebt er sein Spurtvermögen aus und macht das Überholen bei einem Sprint von 0 auf 100 km/h in 2,9 Sekunden zum Kinderspiel. Und auf der Rennstrecke ist es mit der Zurückhaltung vollends vorbei.
Sicher am Limit
Dann fängt der bis eben verdächtig zugeschnürte Motor plötzlich bitterböse an zu brüllen, die Gänge kommen mit der Wucht von Handkantenschlägen, das Cockpit verengt sich zu einem schmalen Display und gibt so den Blick noch besser frei auf die Idealline. Und die Lenkung ist so scharf wie das Skalpell eines Chirurgen. Mit genau so viel Präzision lässt sich das Coupé über den Kurs führen.
Perfekt ausbalanciert und bis ans Limit berechenbar, schlägt der McLaren der Fliehkraft ein Schnippchen und nimmt die Kurven mit einer fast traumwandlerischen Sicherheit. Animiert von einem elektronischen Rundstreckentrainer fährt man immer schneller, bremst später, lenkt enger an den Scheitelpunkt heran und tritt früher wieder aufs Gas - nur um in der Runde darauf zu lernen, dass es noch schneller geht. Denn bevor dieses Auto an seine Grenzen kommt, hat der Fahrer sein Limit längst überschritten.
Ein Schalter macht den Sportwagen zum Spielzeug
Dabei wirkt der McLaren selbst im schärfsten Modus noch seriös und beherrscht - zumindest bis man vor überschäumendem Selbstvertrauen an der Variable Drift Control zu fingern beginnt. Denn mit stufenweise deaktivierter Elektronik wird der Sportwagen zum Spielzeug, das vor allem Spaß bringen und eine Show machen will.
Nicht umsonst entwickelt das Heck dann plötzlich ein gefährliches Eigenleben, stellt sich in Kurven quer und immer querer, bis irgendwann beißender Qualm aus den Radkästen quillt und die Breitreifen in Rauch aufgehen.
Fazit: Sportler mit breiterem Spektrum
Schnell, stark, messerscharf und trotzdem spielend leicht zu beherrschen - schon der Vollgasfraktion bietet McLaren mit dem 720S mehr als je zuvor. Doch mit dem erhöhten Alltagsnutzen haben die Briten das Spektrum noch einmal deutlich erweitert. Wen juckt es da schon, dass es in der Formel 1 gerade nicht läuft? Von einem guten Rennwagen profitieren allenfalls eine Handvoll Profis, vom 720S aber allein in diesem Jahr noch rund 1400 zahlungskräftige Amateure.
Datenblatt: McLaren 720S
Alle Daten laut Hersteller, GDV, Schwacke