Kempen. Kempen war einst eine stolze Festungsstadt
Kempen. · Etwa 50 Jahre soll der Bau des Kempener Mauerrings im 14. Jahrhundert gedauert haben, der die Stadt vor Feinden schützte.
Man stelle sich vor: Im Jahre 1370 hat ein Fuhrmann im Neusser Hafen – damals floss der Rhein noch dicht an der Stadt vorbei – drei Fässer Wein aufgeladen. Er soll damit nach Kempen, und erkundigt sich nach dem Weg. „Das ist einfach“, wird man ihm antworten. „Du siehst die Türme schon von Weitem. Die Stadtmauer ist ja berühmt, kein anderer Ort weit und breit hat so was.“ Und so zockelt der Wagenfahrer los und steht nach einem Tag Fahrt staunend vor einer imponierenden Stadtsilhouette.
Was die Kempener zwischen 1320 und 1370 auf die Beine gestellt haben, ist beeindruckend. Zunächst, etwa seit 1290, haben sie auf Anweisung ihres Landesherrn, des Erzbischofs Siegfried von Westerburg, ihre Dorfsiedlung mit einer provisorischen Befestigung umgeben, vorwiegend aus Graben, Erdwall und Palisaden. Diese erste Anlage hat nur den damals bestehenden Siedlungsbezirk umfasst: die Urzelle der späteren Stadt Kempen zwischen Enger-, Juden- und Neustraße sowie dem heutigen Hessen- und Donkwall. Die Kempener leisteten mit der Befestigung einen Beitrag zur Sicherungspolitik Siegfrieds, der 1288 in der Schlacht bei Worringen eine schwere Niederlage erlitten hatte und seine Landesgrenzen bedroht sah. Als Gegenleistung für Anstrengungen „über ihr Leistungsvermögen hinaus“ verleiht der Erzbischof den Einwohnern 1294 Stadtrecht. Außerdem erlaubt er den Bürgermeistern, von den Gewerbetreibenden, wenn die sich bei der Ausübung ihres Berufes etwas zuschulden kommen lassen, eine Strafgebühr einzuziehen. Doch das reicht nicht für einen massiven Mauerbau – weiteres Kapital muss her.
Der Festungsbau stockt. Kempens Landesherr kriegt das natürlich mit – und wird aktiv. 1319 stellt Erzbischof Heinrich von Virneburg eine Urkunde aus. In ihr beklagt er, dass die junge Stadt erst schwach durch Mauern und Gräben gesichert sei, und nur wenig durch Straßen erschlossen. Gegen einen Angriff könne sie kaum verteidigt werden. Also gestattet er den Kempenern, für ihren Festungsbau vier Jahre lang von allen Waren, die im Ort verkauft werden, eine Steuer zu erheben. Eine zweite Steuer erlaubt Virneburg den Kempenern 1330; diesmal für zehn Jahre.
Nun fließen Steuergelder und kurbeln die Bautätigkeit an. Ungefähr seit 1320 werden Erdwall und Palisadenzaun allmählich durch eine Steinmauer ersetzt. Weiteres Geld hat die Stadt sich wohl bei ortsansässigen jüdischen Verleihern besorgt und von Geldkaufleuten aus dem Piemont, die 1306 zur Wirtschaftsförderung gezielt nach Kempen geholt worden waren. Ein großer Teil der Mittel dürfte aber von Bürgern gekommen sein. Vermutlich haben die Einwohner auch selbst in die Hände gespuckt und beim Befestigungsbau angepackt; es gibt Hinweise, dass sie in den Peschbenden, dem Grünstreifen des heutigen East-Cambridgeshire-Parks, Ziegel gebrannt haben, sie herankarrten und vermauerten. Wiederholt ist vom Eifer der Kempener bei der Entwicklung ihres Ortes die Rede.
So entsteht etwa ab 1320 eine Mauer, 1830 Meter lang und sieben Meter hoch, mit vier beeindruckenden Torburgen: der „Kempener Rundling“. Zugleich werden 16 halbmondförmige Türme erbaut. Als Steigetürme ermöglichen sie ein Erklimmen des anwachsenden Steinwalls. Sie kehren ihre Rundseite zum Feind hin und schließen zur Stadtseite mit dem Mauerverlauf geradlinig ab. In vier der sechs Mauersegmente befindet sich je ein höherer Turm, der die Mauer um etwa ein Stockwerk überragt. Mit den 16 Rundtürmen hat die Mauer also 20 Türme umfasst. Um 1370 dürfte der Festungsbau im Wesentlichen abgeschlossen gewesen sein.
Besonders gefährdet ist die Befestigung an den vier Stellen, wo Straßen in sie hineinführen. Die Zugänge werden durch monumentale Torburgen gesichert, das Peter-, Ellen-, Kuh- und Engertor. Sie bestehen aus einem viereckigen Hauptturm, dem Bollwerke vorgelagert sind, mit Türmen und Toren versehen. Wohl am stärksten befestigt war das Kuhtor, hütete es doch den Zugang zur Stadt von der Nordseite her, vom Herzogtum Geldern. Bis in die frühe Neuzeit trug das Tor auch den Namen „Nikolaustor“, denn von hier aus, auf dem Weg nach Wachtendonk, traf man auf halber Strecke, ungefähr in Höhe der Schloot, auf die Nikolaus-Kapelle, die am Ende des 16. Jahrhunderts dem „Truchsessischen Krieg“ zum Opfer fiel.
Das Dach des rekonstruierten Mauerteils ist unhistorisch
Ein Dach hat der ausladende Mauerring nicht – das Mauerteil, das 1967 an der Wallmühle rekonstrueirt wurde, zeigt das falsch. Aber zwei Wassergräben sind der Mauer vorgelagert. Sie sind längst beseitigt, haben aber Spuren hinterlassen. Der innere Graben ist noch in der Vertiefung der Grünpromenade erkennbar, den äußeren zeichnet die Ringstraße nach.
1372 fordert Erzbischof Friedrich von Saarwerden die Kempener auf, aus Sicherheitsgründen eine steinerne Windmühle in die Festungsmauer einzubauen – die außerhalb der Mauer, in der Nähe des Engertores gelegene, hölzerne Mühle ist leicht zu zerstören. Aber es vergehen mehr als 100 Jahre, bis die Wallmühle errichtet wird; eine Chronik nennt 1481 als Baujahr. Sicher bezeugt ist sie erst 1526.
Was ist aus den Festungswerken geworden? Ein Verfall setzt ein, als 1642 im Dreißigjährigen Krieg hessische Truppen Kempen erobern. Die Besatzung ist evangelisch und schikaniert das vor allem katholische Kempen nach Kräften. Unter dem Vorwand, sie könnten die Stadt so besser verteidigen, reißen die Hessen die Dächer der Tore und Türme ab. Regen und Schnee setzen dem Mauerwerk zu. Nach Kriegsende stürzt 1660 bei Ausbesserungsarbeiten das Petertor ein. Nach der Vertreibung der evangelischen Bevölkerungsminderheit macht sich in der Stadt Stagnation breit, die Anlagen verfallen. Gegen moderne Feuerwaffen hätten sie ohnehin keine Chance. 1773/74 werden die Ringmauern und Mauertürme abgebrochen und durch ein Schutzmäuerchen gegen umherstreifende Räuberbanden ersetzt, drei Meter hoch, das großenteils heute noch steht. 1841 fallen die Reste des Enger- und des Ellentores der neuen Landstraße Hüls-Kempen-Grefrath anheim. Jetzt steht nur noch das Kuhtor. Es gilt als Verkehrshindernis, und dreimal beschließt der Kempener Stadtrat seinen Abbruch – was der preußische Landeskonservator schließlich verhindert. Zum Glück.