Marcel Beyer: Von toten Vögeln, die einen fest im Blick haben
Der Autor Marcel Beyer erzählt von der Entstehung seines Romans „Kaltenburg“.
Düsseldorf. "Für mich ist das Buch ein Meisterwerk", sagt Gastgeber Rudolf Müller am Ende des anregenden Abends mit Marcel Beyer im Düsseldorfer Heine-Haus.
Gleicher Ansicht war wohl die Jury des Joseph-Breitbach-Preises, die Beyer soeben den mit 50 000 Euro höchstdotierten deutschen Literaturpreis verliehen hat, unter anderem für seine "psychologisch komplexe Auseinandersetzung mit den langen Schatten der Vergangenheit".
Diese hat Marcel Beyer in seinem Roman "Kaltenburg" aus der Perspektive der Vogelkundler dargestellt. Ludwig Kaltenburg erinnert nicht zufällig an den Verhaltensforscher Konrad Lorenz, der ein Mitläufer der Nazis war, und nach dem Krieg im Münsterland, später in Österreich mit seinen Tierbeobachtungen berühmt wurde.
"Auf der Kante zwischen Fiktion und historischer Forschung" habe er gearbeitet, sagt der Autor im Gespräch, und zwar hat er im Roman den Forscher in die DDR versetzt.
Marcel Beyer, aufgewachsen in Kiel und Neuss, lebt selbst seit 1996 in Dresden und machte diese Stadt zum Schauplatz seines Romans. Dort lebt sein Ich-Erzähler, der alte Ornithologe Hermann Funk, gebeugt über präparierte Dohlen, die ihn an die große Zeit erinnern, als er engster Mitarbeiter von Ludwig Kaltenburg war.
Damals half er ihm, die Dohlen, diese Lieblingstiere von Konrad Lorenz, abends ins Haus zu locken, denn die waren so gezähmt, dass sie sich gegen ihre natürlichen Feinde nicht mehr wehren konnten.
Obwohl auch andere Figuren im Roman reale Vorbilder haben, zum Beispiel Heinz Sielmann und Joseph Beuys, will Marcel Beyer "Kaltenburg" nicht als Schlüssel- oder Enthüllungsroman verstanden wissen. Die Fakten über Konrad Lorenz’ Karriere lägen ja auf dem Tisch.
Ihm ging es um die Vergegenwärtigung deutscher Nachkriegszeit, hervorgerufen durch vielfältige Erinnerungen: Hermann Funk hat als Kind Kaltenburg in Posen kennen gelernt, (wo Konrad Lorenz sich tatsächlich aufhielt), später zog er mit den Eltern nach Dresden, erlebte dort als Elfjähriger die Bombardierung der Stadt, die ihn als Vollwaisen zurückließ.
Kaltenburg wird zum Vaterersatz, schmerzlich muss der junge Ornithologe beobachten, wie der Tierfilmer Sieverding zum Vertrauten des Forschers wird, und dieser schließlich die DDR verlässt.
Warum er gerade die Ornithologie zum Romanthema gemacht habe, fragt Robert Müller seinen Gast, und Marcel Beyer erzählt, dass tatsächlich Dresden ihn dazu inspiriert habe. Die Menschen dort seien viel bessere Kenner der Vogelwelt, als er das früher je erlebt habe, und dann habe ihn die ornithologische Sammlung fasziniert. Die toten Vögel, die einen dennoch - scheinbar - fest im Blick haben, vermittelten einen Eindruck von der Vielfalt des Lebens.