Ein Kölner in der Steppe Navid Kermani erkundet Osteuropa
Köln (dpa) - Um 9.20 Uhr biegt Navid Kermani auf seinem Fahrrad in die Hofeinfahrt hinter seinem Büro ein. Gleich daneben hat ein türkischer Obst- und Gemüsehändler sein reichhaltiges Angebot unter einer Markise ausgebreitet.
Die Lamm-Metzgerei hat noch geschlossen. Genau dazwischen: ein „Damen-Herren-Salon“, der sämtliche Moden der vergangenen Jahrzehnte souverän ignoriert zu haben scheint.
Kermani hat dieses Viertel hinterm Kölner Hauptbahnhof selbst einmal beschrieben. Diejenigen, die heute hier lebten, könnten mit der 2000-jährigen Geschichte Kölns wohl kaum etwas anfangen, schrieb er. Aber sie führten den Namen „Colonia“ auf seine wörtliche Bedeutung zurück, indem sie Kolonien bildeten, „Kolonien von Fremden“.
Eine steile Treppe führt zu Kermanis Büro hinauf. Eigentlich ist es eher eine Wohnung, die als Büro genutzt wird. In der Ecke eine provisorische Schlafstätte, vor dem Fenster ein Schreibtisch mit Blick in den Hof und sonst vor allem Bücher, sehr viele Bücher. Der Schwerpunkt liegt auf Politik, Geschichte und Religion.
Der Friedenspreisträger ist habilitierter Orientalist, aber auch Kenner deutscher Literatur. Er arbeitete als Regisseur und Dramaturg, recherchierte aber auch mit Reporterblock in Kriegsgebieten. Als Autor ist er bekannt für seinen Roman „Große Liebe“, das Kinderbuch „Ayda, Bär und Hase“ und eine höchst originelle Huldigung an die Musik des Rockstars Neil Young. Sein Opus Magnum ist das 1200-Seiten-Werk „Dein Name“, eine Mischung aus Tagebuch, Erzählung und Gesellschaftsanalyse.
Man kann vielleicht sagen: Navid Kermani ist ein deutscher Dichter und Denker neuen Zuschnitts. Er beweist, dass Migration nicht zwangsläufig zu einem Identitätsproblem führen muss. „Ich bin Muslim“, sagt er, „aber ich bin auch vieles anderes“. Zum Beispiel Fan des gebeutelten FC Köln.
Erfolgreiche Schriftsteller treten mitunter wie Manager auf. Sie haben einen Mitarbeiterstab und vor allem ein Smartphone. Kermani hat noch nicht mal Internet oder Telefon im Büro. Dafür eine kleine Küchenzeile, in der er Kaffee aufsetzt. Beim Bäcker hat er Mutzen gekauft, eine in Fett gebackene rheinische Spezialität mit Puderzucker, die vor allem an Silvester und Karneval gereicht wird. Kermani fühlt sich definitiv als Kölner, auch wenn er streng genommen ein „Imi“ ist, ein „imiteete Kölsche“ (imitierter Kölner), wie man in der Stadt Zugezogene nennt.
Früher, so vor 20 Jahren, kam es hin und wieder vor, dass er gefragt wurde, ob er denn „nochmal zurückgehen“ wolle. Damit war dann der Iran gemeint, das Land, aus dem seine Eltern kamen. Er hat die Frage nie als diskriminierend oder beleidigend empfunden, eher als kurios. Zurück - das wäre in seinem Fall Siegen in Südwestfalen. Die Stadt, in der er geboren und aufgewachsen ist und deren Dialekt man bei ihm noch heraushört. Seine Antwort lautete dann: Nein. Zurück nach Siegen wolle er nicht.
In seinem neuem Buch „Entlang den Gräben“ geht es auch um Identität. Er wollte wissen, was zwischen Deutschland und dem Iran liegt. Er wollte Länder wie Polen, Weißrussland, die Ukraine, Georgien und Armenien erleben. Dabei machte er die Erfahrung: In manchen dieser Länder war er Deutscher, in anderen Iraner.
„Ich habe mich noch nie so deutsch gefühlt wie in Auschwitz“, bekennt er. Dort bekam er einen Badge mit der Aufschrift „deutsch“ aufgedrückt. „Bis zum Kaukasus wurde ich überall als Deutscher angesprochen, weil dort Deutsche so präsent sind im Gedächtnis. Im Transkaukasus hingegen wirkte die iranische Kultur stark, und entsprechend wurde ich ab Georgien eher auf das Persische angesprochen, als Iraner, nicht mehr als Deutscher.“
Wo beginnt der Osten? Bei dieser Frage muss Kermani an Konrad Adenauer denken. Der erste Kanzler der Bonner Republik behauptete von sich selbst, dass er hinter der Elbe immer die Vorhänge seines Zugabteils zuzuziehen pflegte, weil er sich den Anblick der „eurasischen Steppe“ nicht zumuten wollte. Für den katholischen Rheinländer war das schon nicht mehr wirkliches Abendland.
Auch Kermani denkt bei dem Begriff Osten an endlose Ebenen. Mit der Steppe verbunden sei auch ein Lebensgefühl: „Die Menschen halten da viel stärker an ihrer Identität und Sprache fest, es gibt ja auch nicht viel anderes. In Amerika, was erinnert dort noch an die deutschen Einwanderer außer den Namen? Aber gehen Sie mal nach Jalta, da werden Sie auf Deutsch angesprochen.“
Breiten Raum in seinen Schilderungen nehmen die Schrecken des Zweiten Weltkrieges ein, die in Osteuropa noch weit schrecklicher waren als im Westen. „Dadurch dass wir nach dem Krieg diese starke Westbindung hatten - aus guten Gründen -, ist der Holocaust aus dem topografischen Bewusstsein verschwunden.“
Aber er gerät auch ins Schwärmen, wenn er von seiner Reise berichtet, zum Beispiel von Odessa, noch ganz unberührt vom Massentourismus. Oder von der Kunst zu feiern, auf die man sich dort noch verstehe. Anders als in Köln mit seinem Dauerkarneval.
Aber in seinem Rückzugsort ohne Internet oder Fernsehen bekommt er davon kaum etwas mit. Vielleicht weht ein „Kölle Alaaf“ herüber, vielleicht verirrt sich ein Stoßtrupp blau oder rot uniformierter Herren in die Straße. Aber in seinem Viertel der Kolonien, gleich hinterm Bahnhof, ist der Karneval nur eine Lebenswirklichkeit von vielen.
Navid Kermani: Entlang den Gräben, Eine Reise durch das östliche Europa bis nach Isfahan, 442 Seiten, 24,95 Euro, ISBN-13: 978-3406714023