Pop-Papst Diederichsen schlägt den großen Bogen
Berlin (dpa) - Wir hören sie im Radio, summen sie unter der Dusche, tanzen zur ihr in der Diskothek - und dennoch dürfte es den meisten von uns ziemlich schwer fallen, sie genau zu erklären.
Die Rede ist von Pop-Musik. Ist Pop eine Stilrichtung? Madonna, Lady Gaga, Robbie Williams? Oder geht es um den Erfolg, die Verkaufszahlen? Ist Pop-Musik die „massenhaft verbreitete populäre Musik“, wie der Duden schreibt?
Beide Erklärungen greifen für den bekannten Pop-Theoretiker Diedrich Diederichsen zu kurz. In seinem aktuellen Buch „Über Pop-Musik“ versucht sich der 56 Jahre alte Kulturwissenschaftler, Hochschullehrer, Journalist, Publizist und Kritiker an einer Definition. Schnell wird klar: Für Diederichsen ist Pop-Musik das große Ganze. Sie sei eine andere Sorte Gegenstand, schreibt er in der Einführung. Da ist es konsequent, dass es in „Über Pop-Musik“ eben nicht um Musik geht - zumindest nicht in erster Linie.
„Pop-Musik ist der Zusammenhang aus Bildern, Performances, (meist populärer) Musik, Texten und an reale Personen geknüpfte Erzählungen“, erläutert Diederichsen, der in Wien lehrt, und schlägt damit den großen Bogen: Er versteht Pop-Musik als die auf CD gepresste Stimme, die wir uns ins Jugendzimmer geholt haben, und als die Technik, die das möglich gemacht hat. Für ihn ist sie die Flut an Bildern unserer Lieblingsband, das CD-Cover, die Fernsehauftritte. Sie ist das ewige Spiel von Nähe und Distanz zwischen Fan und Star, von Rolle und Authentizität. Sie ist die Pose, die wir vor dem Spiegel üben, und die Verbindung zwischen all diesen Dingen.
„Es ist sicher das erste Buch, das der ganzen Vielgestaltigkeit des Phänomens Rechnung trägt“, preist der Verlag Kiepenheuer & Witsch das Werk an. Ebenso erschöpfend wie Diederichsen seinen Gegenstand betrachtet, sind dann auch die Ausführungen seines Buches. Auf gut 450 Seiten schreibt er über die Entstehungsgeschichte, die Produktion und Rezeption von Pop-Musik. Er schreibt über Sprache, Pose, Performance, über Stimmen, Maschinen, Sozial-Objekte, über Menschen und Gegenkultur.
Ist das zu viel? Legt Diederichsen, den die „Süddeutsche Zeitung“ einst eine Instanz nannte, wenn es in Deutschland um Pop und Gesellschaft, um Popmusik und Politik geht, seine Analyse zu breit an? Erklärt er, der sich vorgenommen hat, alles zu erklären, am Ende gar nichts, wie ihm die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ unterschwellig vorwirft?
Mag sein, dass er in seinem Buch das Phänomen nicht scharf genug umreißt. So wie er Pop-Musik begreift - in diesem sehr weiten Sinn - ist das aber vielleicht gar nicht möglich. Dann wird Pop-Musik nämlich zu einem Begriff wie Kultur oder Gesellschaft, die auch kaum in ihrer Gänze ausgeleuchtet und erklärt werden können. Scharfsinnig sind Diederichsens Gedanken zur Popmusik dennoch - auch wenn man nicht immer seiner Meinung ist.
Worin sich jedoch alle - vom Kulturredakteur bis zum Kulturtheoretiker, vom Musikproduzenten bis zum Musikhörer - einig sein dürften: Pop-Musik hat einen Einfluss auf uns und auf die Gesellschaft. Deshalb ist sie die wissenschaftliche Auseinandersetzung wert. Als solch ein Beitrag - ein kulturwissenschaftlicher - muss Diederichsens Buch gelesen werden, auch wenn er seine Ausführungen immer wieder mit autobiografischen Erzählungen versetzt. Laien, die ein nettes Buch über Pop-Musik erwarten, sind hier falsch.
Diedrich Diederichsen, „Über Popmusik“, Kiepenheuer & Witsch, 450 Seiten, 39,99 Euro, ISBN 978-3-462-04532-1