Stephen King: Wahn - Gefangen in der Abwärtsspirale

Schauer-Roman: Mit „Wahn“ meldet sich der 60-jährige Schriftsteller aus Maine zurück.

Wuppertal. Bau-Unternehmer Edgar Freemantle hat alles verloren: Bei einem Unfall seinen rechten Arm, bei einer Trennung seine Frau, und in einem einsamen Strandhaus auf der Florida-Insel Duma Key ist der Mann nun auch noch dabei, seinen Verstand zu verlieren. In diesen Strudel stößt Stephen King die Leser in seinem neuen Roman "Wahn".

Das Buch setzt die Reihe jener Schauer-Romane fort, die King nach Abschluss seiner Saga um den "Dunklen Turm" in Angriff genommen und die der Heyne-Verlag in seinen deutschen Ausgaben mit griffigen Vier-Buchstaben-Titeln versehen hat: Auf den "Puls" folgte "Love" (beide im Jahr 2006) sowie "Qual" (2007) unter dem Pseudonym Richard Bachmann. Mit "Wahn" scheint das schwarze Quartett nun perfekt zu sein. Bis zum nächsten Streich, denn der Schriftsteller aus Maine bleibt auch im gesetzten Alter seinem Ruf als Vielschreiber treu - wobei "Qual" ein älteres Manuskript aus Kings abgrundtiefer Schublade war.

Die neueren Romane haben eines gemeinsam: Wie ein roter Faden ziehen sich Verluste unterschiedlichster Art durch die Geschichten. Dreht sich der Mobilfunk-Schocker "Puls" in erster Linie um den Abschied von Rationalität und Zivilisation, geht es in "Love" um den Verlust eines geliebten Ehemannes, der seine Frau über den Tod hinaus begleitet. In "Qual" kommt ein kleines Kind abhanden, während sich in "Wahn" die Verluste in einer unheimlichen Abwärtsspirale multiplizieren - hinter der Fassade eines einsam gelegenen Hauses am Meer, in das sich der Multimillionär Freemantle zurückzieht.

Wie "Love" ist auch "Wahn" eine Innenansicht - mal abstoßend, mal bewegend, aber immer plausibel und packend. Der Schrecken bricht nicht von außen in die Welt des Protagonisten ein, sondern überrascht ihn im Dickicht seiner Gedanken, den letzten Rest Verstand umschließend: Freemantle beginnt wie von Sinnen zu malen, einer geheimnisvollen Eingebung folgend und von Geistern begleitet, die ihn nicht mehr loslassen, bis die Gewinde aller Abwärtsschrauben im Wahnsinn enden: Freemantles Bilder sind dunkle Visionen.

Auch "Wahn" nährt den Eindruck, dass King in seinem Spätwerk sein Leben reflektiert. Bezeichnend: Den Verlust von Selbstbestimmung erlebte King 1999 am eigenen Leib - als Unfallopfer, ans Bett gefesselt und mit Macht an die eigene Sterblichkeit erinnert. Viele dieser Züge trägt auch Edgar Freemantle in "Wahn" - sich Kreativität zur inneren Wundheilung verordnend und die Nebenwirkungen nicht beachtend. Die Konsequenz daraus ist eine erhabene Schauergeschichte, die sich nahtlos in Kings Gesamtwerk einfügt.

Stephen King: "Wahn", Heyne Verlag, 22,95 Euro