Was wäre wenn? - Sten Nadolnys neuer Roman

Berlin (dpa) - Wer möchte sich nicht gerne bisweilen neu erfinden, seine Identität abstreifen oder sein Leben im Nachhinein an der einen oder anderen Stelle umschreiben?

Dieses „Was wäre wenn?“ ist ein verführerisches Gedankenspiel, dem auch Sten Nadolny in seinem neuesten Roman „Weitlings Sommerfrische“ nachgeht. Er schickt darin einen pensionierten Richter auf eine Zeitreise zurück in die Kindheit, woraus sich ein reizvolles Spiel um Identitäten entwickelt. Keine Frage, dass der 69-jährige Autor dabei auch mit seiner eigenen Identität spielt, verarbeitet er doch in dem Buch große Teile seiner Biografie.

Sten Nadolny hat vor nunmehr fast 30 Jahren mit „Die Entdeckung der Langsamkeit“ nicht nur einen internationalen Bestseller geschrieben, sondern auch ein bis heute beliebtes geflügeltes Wort kreiert. Das Buch traf damals einen Nerv. Denn der Roman über den Polarforscher John Franklin sang das Hohe Lied der Langsamkeit und Beharrlichkeit in einer Zeit, die dem Götzen der Geschwindigkeit huldigte. Keines der nachfolgenden Bücher Nadolnys konnte mehr an diesen überwältigenden Erfolg anknüpfen.

Gemächlich ist auch der Erzählrhythmus des neuen Buches, so beschaulich wie das liebenswert altertümliche Wort „Sommerfrische“. Der pensionierte Berliner Richter Wilhelm Weitling macht einen Bootsausflug auf dem Chiemsee. Weitling ist mit seinem Leben einigermaßen zufrieden, auch wenn er sich selbst für ziemlich mittelmäßig hält: „Er hatte zeitlebens darunter gelitten, dass er nicht besser war, nicht im Rechnen, nicht im Schreiben, Ballspielen, Tanzen, nicht in Fremdsprachen und nicht in der Liebe.“ Immerhin hatte er unverhofftes Glück mit seiner Frau: „Neben Astrid war es nicht leicht, depressiv zu bleiben.“

Doch sein Segeltörn nimmt einen unerwarteten Verlauf. Weitling gerät in einen Sturm und kentert. Er überlebt und befindet sich in einem Schwebezustand, irgendwo zwischen Traum und Wirklichkeit. Er ist wieder der junge Willy, der in der 50er Jahren in einem Ort am Chiemsee aufwächst. Er sitzt neben seinem jüngeren Ich in der Schule und ärgert sich, wenn dieses so faul und gedankenlos ist. Manchmal möchte sein unsichtbarer Geist den Jungen treiben und ermahnen, dann gefällt ihm aber auch wieder, was Willy macht, etwa sein respektvoller Umgang mit dem verwirrten Großvater. Mal kommentiert Weitling das Geschehen von außen, dann schlüpft er wieder ganz in die Rolle des Jungen. Nähe und Distanz, 1. und 3. Person Singular wechseln einander ab.

Wir erfahren, dass Willys Vater ein vielversprechender Schriftsteller ist, der Juristen aus tiefstem Herzen hasst. Aus jugendlichem Trotz wählt der Sohn wohl gerade deshalb die Richterlaufbahn. Doch könnte es nicht auch ganz anders gewesen sein? In einer zweiten Lebensvariante bricht Weitling sein Jurastudium ab, wird Lehrer, gibt auch diese Laufbahn auf und endet schließlich wie sein Vater als Schriftsteller. Diesmal wird aus der patenten Mutter, die so wunderbar den Alltag meisterte und die Manuskripte für den schriftstellernden Vater abschrieb, selbst eine erfolgreiche Autorin. Dies ist tatsächlich die Geschichte von Nadolnys eigener Mutter Isabella, die in den 50er Jahren zur beliebten Autorin von Frauen- und Familienromanen avancierte.

So jongliert Nadolny in seinem Roman geschickt mit verschiedenen biografischen Möglichkeiten. Er beschreibt das Leben als Versuchsanordnung. Ein reizvolles Experiment, das schön und mit philosophischem Tiefsinn erzählt ist, allerdings kaum das Potential zu einem Bestseller haben dürfte.

Sten Nadolny

Weitlings Sommerfrische

Piper Verlag, München

224 Seiten, 16,99 Euro

ISBN 978-3-492-05450-8