Anne Franks Tagebuch auf der Theaterbühne
Amsterdam (dpa) - Anne träumt: Sie ist in Paris, der Krieg ist vorbei, sie lacht. Anne Frank lebt. Dann erzählt sie ihre Geschichte. Es ist die Geschichte, die weltweit Millionen Menschen berührt hat.
Mit dieser fiktiven Szene beginnt die viel diskutierte Bühnenfassung des Tagebuchs von Anne Frank, die am Donnerstagabend in Amsterdam uraufgeführt wurde. „Anne“ zeichnet das Leben des jüdischen Mädchens nach, das kurz vor seinem 16. Geburtstag und der Befreiung im Konzentrationslager Bergen-Belsen starb.
In dem extra für das Stück erbauten Theater ließ Regisseur Theu Boermans die Welt von Anne neu errichten. Spektakuläre Kulissen auf einer gigantischen Bühne ziehen den Zuschauer in diese Welt hinein - Amsterdam von 1940 bis 1944.
Das Hinterhaus an der Prinsengracht, in dem die Familie Frank mit vier weiteren Juden im Versteck vor den Nazis lebte, wurde originalgetreu nachgebaut. Wie in einem Puppenhaus sieht man Szenen auf den verschiedenen Ebenen. Immer wieder dreht sich das Haus, verschafft neue Blickwinkel und macht zugleich die Ausweglosigkeit fühlbar. Zwei Jahre und zwei Monate lang lebten die acht Personen auf engstem Raum miteinander, ständig in der Angst, entdeckt zu werden.
Die Autoren, das niederländische Schriftstellerpaar Leon de Winter und Jessica Durlacher, schildern in sehr intimen Szenen den Alltag im Hinterhaus - mit den Worten Annes. Ihnen standen erstmals alle Tagebücher von Anne und auch das Archiv ihres Vaters Otto zur Verfügung.
Der Streit ums Kartoffelschälen oder einen Pelzmantel - es sind Miniaturen, in denen die große Angst und Verzweiflung sichtbar wird. Während in einem Zimmer gestritten wird, liest Annes Schwester in einem anderen, und huscht sie selbst schnell über die steilen Stiegen zum Dachboden oder sitzt an ihrem kleinen Tischchen und schreibt.
Die 27-jährige Schauspielerin Rosa da Silva zeigt Anne nicht als das Opfer des Holocausts, sondern als ein lebhaftes, nachdenkliches Mädchen und bisweilen auch als nervigen Teenager. Rosa ist Anne. So erschien es auch beim Schlussapplaus, als Buddy Elias die Bühne betrat. Der 88-Jährige ist der Cousin von Anne und das einzige noch lebende Mitglied der Familie. Bewegt umarmte er die junge Schauspielerin.
Das schreckliche Ende der Familie Frank schwebt ständig wie eine drohende Wolke über der Bühne. Der Schrecken des Krieges wird mit historischen Fotos und Filmen auf große Leinwände projektiert: Ein hasserfüllter Adolf Hitler, Judenpogrome, marschierende Soldaten. Dazwischen immer wieder Aufnahmen von Annes Handschrift im Tagebuch. Das Schreiben widersetzt sich dem Terror.
Zu der brutalen Außenwelt haben die Eingeschlossenen nur über ihr Radio eine Verbindung. Dort hören sie von der Invasion der Alliierten in der Normandie. Die Freude und Hoffnung sind groß.
Kurz darauf folgen Verrat und Deportation. Dies wird in einer fast wortlosen Szene nur skizziert und ist daher besonders eindrucksvoll. Nur Otto Frank überlebt.
Kann man das Unvorstellbare des Holocausts in einer Multimediaschau fassen? Kritiker hatten im Vorfeld die „Vermarktung“ von Anne Frank beklagt. Doch diese Inszenierung, unterstützt von der einfühlsamen Musik des niederländischen Komponisten Paul van Brugge, kommt ohne billige Schockeffekte aus. Nur das Mädchen und ihr Buch stehen im Zentrum.
Zum Schluss steht Anne allein auf der Bühne vor der Kulisse des Konzentrationslagers. „Ich wollte ... ich wünschte … ich träumte….“ Sie beendet die Sätze nicht mehr. Sie wäre so gerne berühmt geworden. Und nun weiß sie noch nicht einmal, sagt sie, ob sich überhaupt jemand an sie erinnern wird. Sie legt ihr Buch auf die Bühne und geht.