"Im Winter ein Jahr": Die Qualen einer Familie
Drama: Oscar-Preisträgerin Caroline Link lässt in "Im Winter ein Jahr" ein großartiges Darsteller-Ensemble Trauerarbeit leisten.
Düsseldorf. Was sie von Alexander wussten, war, dass er den Schnee liebte. Immer wenn die ersten Flocken fielen, stellte er sich in den Garten, die Augen geschlossen, in den Ohren die Kopfhörer seines MP3-Players. Unbeholfen bewegte er sich zur Musik und zum Rhythmus der Witterung. Er war ein Träumer, ein talentierter Sportler, konfliktscheu, eben das Nesthäkchen.
Er wurde geliebt, mit allen Konsequenzen. Genau gekannt haben sie ihn aber nicht, die beherrschte Mutter Eliane (Corinna Harfouch), der ehrgeizige Vater Thomas (Hanns Zischler) und Lilli, Alexanders Schwester. Als er sich erschießt, allein, im Wald, wissen sie nicht, an was von ihm sie sich erinnern sollen. Er reißt ein tiefes schwarzes Loch, das jedes Familienmitglied auf eigene Faust zu füllen sucht.
"Im Winter ein Jahr", wird Eliane sagen, als Auftragsmaler Max Hollander (Josef Bierbichler) sie fragt, wie lange Alexander schon tot ist. Sie hat ihn aufgesucht, um ein Porträt in Auftrag zu geben, auf dem ihre Kinder noch einmal gemeinsam zu sehen sind. In erster Linie will sie die Vergangenheit in Form eines Ölgemäldes zurück in ihr Haus holen, hat aber auch die Hoffnung, die bröckelnde Beziehung zu ihrer Tochter kitten zu können.
Lilli allerdings widerstrebt das, wie sie es nennt, "kranke Vorhaben". Max gibt ihr Zeit, lädt sie immer wieder ein, für ihn Modell zu sitzen. Dabei entwickelt sich eine freundschaftliche Verbindung zwischen der 22-jährigen Tanzstudentin und dem zurückhaltenden Mittfünfziger, der ebenfalls durch einen persönlichen Schicksalsschlag aus der Bahn geworfen wurde.
Das Skript der Oscar gekrönten Regisseurin Caroline Link ("Nirgendwo in Afrika") beruht auf einem Roman des Amerikaners Scott Campbell, der die verzweifelte Ursachenforschung hinter bildungsbürgerlicher Fassade schlicht "Aftermath", Nachwirkungen, nannte. Link behält die Personenkonstellationen der Vorlage bei, verfrachtet die Szenerie allerdings aus dem distinguierten Bostoner Umland ins facettenreiche München, wo die Handlung zwischen Lillis Studentenleben, der unterkühlten Designästhetik ihres Elternhauses und Max’ weitläufigem Künstleratelier oszilliert.
Geschickt lässt sie die einander Entfremdeten das Gespräch suchen. Die zwischenmenschlichen Spannungen entladen sich in berührenden, reifen, sogar amüsanten Dialogen.
Bei ihrer Fahndung nach den Motiven für den Selbstmord des Bruders, reißt Lilli ihre Eltern und Max mit in den Sog, das Geschehene zu realisieren. Zischler und Harfouch, aber besonders Herfurth und der großartige Josef Bierbichler spielen diese Spurensuche großartig, Link liefert dazu die passende elegische Atmosphäre, die sich mit einem sanften, herbstlichen Ocker über die Bilder legt.
Trotz aller Stilsicherheit erliegt sie dabei der Versuchung, die Geschichte über ihr gefühltes Ende hinaus weiterzuspinnen, was den Film unnötig dehnt. Die Leistung, einen bleiern wiegenden Stoff spannend und unprätentiös aufzuarbeiten, schmälert das aber nur gering.