Berlinale Sex in the Kino: Goldener Bär für Rumänien
Berlin (dpa) - Tom Tykwer, Jurychef der Berlinale, hatte sich schon zum Auftakt des Festivals „wilde und sperrige“ Filme gewünscht. Dass er das Credo gemeinsam mit seinen fünf Mitstreitern so knallhart umsetzen würde, hätte aber wohl kaum jemand geglaubt.
Unter den am Samstag gekürten Preisträgern sind nur wenige, die halbwegs als Publikumsfilm durchgehen. Dafür viel hohe Kunst, verkopftes Konzept, Arthouse.
Das gilt zu allererst für „Touch Me Not“ der Rumänin Adine Pintilie, den Gewinner des Goldenen Bären. Die 38-jährige Regisseurin versteht ihren ersten abendfüllenden Film als ein „Forschungsprojekt“ zum Thema Intimität.
Detailreich sind alle Spielarten menschlicher Sexualität zu sehen, es gibt den Besuch in einem Sado-Maso-Club, auch Menschen mit Behinderung sind dabei. Das mag kunstvoll in einer Art Laborsituation inszeniert sein, viele Kritiker hielten in der ersten Vorführung den exzessiven Sex dennoch für unerträglich. Sie gingen.
Für den deutschen Film war der Kurs der Jury eine bittere Enttäuschung. Obwohl mit Christian Petzolds Flüchtlingsfilm „Transit“ und mit Thomas Stubers „In den Gängen“ zwei wirklich starke, ungewöhnliche Kandidaten im Rennen waren, wurde kein Wort über sie verloren.
Wollte der deutsche Jury-Chef Tom Tykwer, der mit „Lola rennt“ selbst so einen wunderbaren Publikumsliebling gedreht hat, sich womöglich nicht nachsagen lassen, er entscheide pro domo, für die eigenen Leute? Dabei hätte mindestens der Schauspieler Franz Rogowski (32) mit seinem Doppelauftritt, aber auch Marie Bäumer als Romy Schneider in „3 Tage in Quiberon“ einen Silbernen Bären verdient.
Die Nebenjurys machten die Scharte zumindest ein wenig wett. „In den Gängen“, eine poetische Liebesgeschichte um zwei Wendeverlierer, erhielt die Auszeichnungen der Ökumenischen Jury und der Gilde deutscher Filmkunsttheater. Und es kommt ja noch der Deutsche Filmpreis. Neues Spiel, neues Glück?
Dafür erweist sich die Berlinale erneut als politisches Festival. Einen Silbernen Bären erhalten gleich drei Filme, die auf höchst unterschiedliche Art die gesellschaftlichen Verhältnisse in ihrem Land anklagen.
So nimmt die polnische Regisseurin Małgorzata Szumowska, zum dritten Mal dabei, in ihrer Farce „Gesicht“ („Twarz“) auch die Bigotterie der katholischen Kirche aufs Korn. Dafür bekommt sie den begehrten Großen Preis der Jury.
In dem eindringlichen Schriftstellerporträt „Dovlatov“ erzählt Regisseur Alexey German jr. in starken, ausgeblichenen Bildern von Stagnation und Unterdrückung in der Breschnew-Ära. Seine Frau Elena Okopnaya holte sich mit Design und Kostüme verdientermaßen die Auszeichnung als herausragende künstlerische Leistung.
Und auch der paraguayische Debütfilm „Die Erbinnen“ von Regisseur Marcelo Martinessi versteht sich als eine Parabel auf ein Land, in dem die Menschen sich fühlen wie „Gefangene“. Als Spielfilm, der „neue Perspektiven eröffnet“, bekommt er den Alfred-Bauer-Preis.
Hauptdarstellerin Ana Brun, die in der Geschichte um ein alterndes lesbisches Paar viel von sich selbst zeigt, wird als beste Schauspielerin geehrt. Mit Tränen in den Augen sagt sie: „Ich möchte diesen Preis den Frauen meines Landes widmen, die kämpfen - und vor allem meiner Mutter, die mir beigebracht hat, zu lieben, die Kunst, die Literatur.“
Zum besten Schauspieler kürte die Jury den Franzosen Anthony Bajon (23), der in Cédric Kahns „Das Gebet“ einen Drogenabhängigen spielt. Intensiv und glaubwürdig zeichnet er den zermürbenden Kampf gegen die Drogensucht nach, der ihm mit Hilfe des Glaubens gelingen soll.
Eines ist nach dieser Preisvergabe sicher: Die Entscheidungen der Jury dürften auch im Nachgang noch für erregte Diskussionen sorgen. Denn viele Kritiker hatten ganz andere Favoriten auf dem Zettel - wie etwa den Vier-Stunden-Film „In Zeiten des Teufels“ von dem philippinische Regisseur Lav Diaz über die Verhältnisse unter der Marcos-Diktatur.
Lob dürfte es allerdings für die Stärkung von Frauenpower geben. Immerhin hat nach der letztjährigen Gewinnerin Ildikó Enyedi („Körper und Seele“) erneut eine Frau gewonnen. In Zeiten der MeToo-Debatte um Missbrauch in der Filmbranche ist das immerhin ein starkes Signal.
Festivaldirektor Dieter Kosslick sagte: „Ich glaube, die Woche hat das auch mit den Filmen gezeigt - von großartigen Frauen und über großartige Frauen, die ein bisschen anders waren. Man schießt zurück, und ich glaube, das ist auch ganz gut.“