Günter Grass: „Brandt hat das Land wieder zivilisiert“

Zum 100. Geburtstag des ehemaligen Bundeskanzlers erinnert sich Schriftsteller Günter Grass an den SPD-Politiker.

Lübeck. Literaturnobelpreisträger Günter Grass (86) spricht über seinen Freund Willy Brandt (1913-1992). Der SPD-Politiker habe Deutschland nach der Schreckenszeit des Nationalsozialismus in der Zeit des „Kalten Krieges“ mit seiner Entspannungspolitik den Weg geebnet bis zum Fall der Mauer. Brandt, der von 1969 bis 1974 Bundeskanzler war, wäre am 18. Dezember 100 Jahre alt geworden.

Herr Grass, was macht die politische Lebensleistung von Willy Brandt aus?

Günter Grass: Das sind vor allem zwei Dinge: Er hat uns Deutschen einen Weg gewiesen, wie man aus einer verfahrenen Situation wie dem Mauerbau mit einer Politik der kleinen Schritte — das heißt, im dauernden Gespräch mit dem politischen Gegner auf der kommunistischen Seite — dennoch Fortschritte machen kann und den Weg bereitet, bis hin zum Mauerfall. Das ist die eine große Leistung.

Und die zweite?

Grass: Die ist nicht genügend wahrgenommen worden — leider, und dafür bezahlen wir heute. Willy Brandt hat, als er nicht mehr Kanzler war, aber noch SPD-Parteivorsitzender, im Auftrag der Uno einen 1980 veröffentlichten Nord-Süd-Bericht geschrieben. Darin hat er auf die Lage in den Ländern der sogenannten Dritten Welt hingewiesen. Er hat eine neue Weltwirtschaftsordnung vorgeschlagen, in der die Staaten der Dritten Welt sozusagen auf Augenhöhe mit den Industrienationen verhandeln — das ist nicht geschehen.

Mit welchen Konsequenzen?

Grass: Willy Brandt hatte bereits darauf hingewiesen: Zorn, Ärger und Wut steigern sich in diesen Ländern durch Not, Elend, Verelendung — und das ist der ideale Nährboden für Terrorismus. Der Terrorismus, mit dem wir es heute zu tun haben, den haben wir uns zum Gutteil selber eingebrockt, nicht zuletzt deshalb, weil wir von dieser wegweisenden Schrift Willy Brandts keinen Gebrauch gemacht haben.

Lässt sich Willy Brandts Politikerleben unter einer Überschrift zusammenfassen, etwa „Der Friedenskanzler“?

Grass: Nein, sein Lebenswerk lässt sich nicht auf einen Nenner bringen. Er hat Deutschland wieder zivilisiert, das kann man sagen. Er hat es verstanden, in einer prekären Zeit — 1969 wurde er Kanzler, 1967/68 ging der Studentenprotest in Apo (Außerparlamentarische Opposition) und K-Gruppen über auch in die Vorläufer der späteren Rote Armee Fraktion von Andreas Baader und Ulrike Meinhof — die damals junge, aus guten Gründen protestierende Generation nicht ins Abseits zu drängen. Er hat die SPD zum Beispiel für diese jungen Leute geöffnet, was sicher auch Schwierigkeiten mit sich brachte. Bewundernswert ist, er hat den Mut gehabt, mehr Demokratie zu wagen.

Sie kannten Willy Brandt seit Anfang der 1960er Jahre sehr gut, wie war er als Mensch?

Grass: Ich habe ihn damals, als ich ihm zum ersten Mal begegnete, in einem sehr verletzten Zustand kennengelernt. Das war die Zeit von Konrad Adenauer, in der Brandt als uneheliches Kind diffamiert wurde und als Emigrant. Die CDU und die Springer-Presse brüllten im Verleumdungschor mit — in Bayern war es die „Passauer Neue Presse“ —, das hat ihm sehr zugesetzt, viel seiner Kraft gebraucht und verbraucht, denn das ging ja über Jahre. Er war ein scheuer Mensch, es brauchte immer eine gewisse Zeit der Annäherung — auch zwischen ihm und Menschen, die er schon lange kannte. Aber dann überraschte er mit Herzlichkeit und mit einem unbändigen Drang, Witze zu erzählen.

Was empfanden Sie 1992, als Sie vom Tod Brandts erfuhren?

Grass: Es ging schon vorher, aber mit seinem Tod endgültig eine Ära zu Ende, die mit vielen Hoffnungen verknüpft war. Vieles war nur angelegt und hätte weitergeführt werden müssen. Immerhin, einiges wurde zum Teil aufgegriffen — zum Beispiel die Politik der kleinen Schritte, die er gegen die Widerstände der CDU/CSU begonnen hatte und die schließlich die „neue Deutschlandpolitik“ genannt wurde. Dann, nachdem sein Kanzler-Nachfolger Helmut Schmidt (SPD) sie fortgesetzt hatte, wurde sie auch von Helmut Kohl (CDU) übernommen. Das war unumkehrbar. Nicht dieser Wankelmut, den wir heute erleben. Die heutige Kanzlerin Frau Angela Merkel (CDU) ist ja ein gutes Beispiel dafür: Ich kann so, ich kann auch anders.